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Die anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution bemüht sich seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreiten und weiterzuentwickeln […]

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Eine Fundgrube „Alles andere verweht vom Fahrtwind des Planeten“ – Udo Breger: Extraterritorial. Zeiten mit Carl Laszlo

Die Urwälder Amazoniens – Sergej Gordon/Miriam Lay Brander (Hg.)Die Urwälder Amazoniens. Lebensräume, Kontaktzonen, Projektionsfelder

Der ukrainische Faschist Stepan Bandera […]
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November 12, 2025 at 9:14 AM
50 Jahre Bauplatzbesetzung Kaiseraugst – Michael Schroeren: Kaiseraugst – Macht von unten gegen Atomkraft von Oben

Tierbefreiung und Antikapitalismus – Neo C. Tierbefreiung braucht Antikapitalismus. Ein radikales Plädoyer

Peter Kropotkin: Enteignung

Die Totgesagten leben noch – Benjamin […]
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November 12, 2025 at 9:13 AM
Alles ist Rang? – Eva Stützel: Macht voll verändern Rang und Privilegien in „hierarchiefreien“ Projekten

Jenseits des antizionistischen Chors – Frederik Fuß (Hg.): Anarchistische Scheidewege. Zum Verhältnis von Anarchismus und Antisemitismus

Der Soziologe und der Captain – Torsten Bewernitz […]
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November 12, 2025 at 9:12 AM
Der Anarchosyndikalist Wilhelm Wehner – Norbert Lenhard, Wilhelm Wehner: Anarchist, Syndikalist, Antimilitarist, Freigeist und Naturfreund. Herausgeber: Initiative gegen das Vergessen

Die Bedrohung von Minderheiten ist ein Frühwarnsystem – Michael Hunklinger: Wir werden nicht verschwinden. Wie […]
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November 12, 2025 at 9:11 AM
Eine Geschichte mit dem Rang einer Staatsaffäre – Caroline Michel-Aguirre: Die Gewerkschafterin. Im Räderwerk der Atommafia

Oury Jalloh, die Geschichte eines ungeklärten Todes – Margot Overath: Verbrannt in der Polizeizelle. Die verhinderte Aufklärung von Oury Jallohs Tod im Dessauer […]
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November 12, 2025 at 9:10 AM
Inhalt
Ein feministischer Meilenstein – Ella Carina Werner, Juliane Pieper: Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt

Drei feministische Anarchistinnen – Antje Schrupp: Unter allen Umständen frei. Revolutionärer Feminismus bei Victoria Woodhull, Lucy Parsons und Emma Goldman […]
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November 12, 2025 at 9:10 AM
#gwr502 #ki #kunstlicheinteligenz
big data
Die Denkmaschine

- Der paradoxe Umgang mit generativer Künstlicher Intelligenz (KI) an deutschen Universitäten

https://www.graswurzel.net/gwr/2025/10/die-denkmaschine/
Die Denkmaschine
Als die ersten Programme textgenerierender (generativer) Künstlicher Intelligenz (KI), namentlich Chat GPT, auf den Markt kamen, hallte ein Schreckensschrei durch Deutschlands Universitäten. Insbesondere die Geisteswissenschaften sahen, wenn nicht das Ende der Welt, so doch zumindest das Ende ihrer eigenen Fächer gekommen (1). Im Wochentakt wurden Tagungen zusammengerufen. Die liefen dann häufig so ab, dass auf dem Podium ein Informatiker stand, der mit leuchtenden Augen vom „technischen Durchbruch“ schwärmte, den generative KI bedeute, während seinem Publikum so gar nicht nach schwärmen zumute war. Dieser Schock ist abgeklungen. Wohl auch deshalb, weil sich inzwischen herausgestellt hat, dass viele der düsteren Szenarien kaum mehr waren als geschickt lancierte Negativwerbung der Digitalindustrie. Nun allerdings lässt sich an vielen deutschen Universitäten ein Verhalten beobachten, das an das Phänomen der Identifikation mit dem Aggressor erinnert. Hatte man zunächst wie das Kaninchen vor der Schlange dagehockt, kann es nun gar nicht schnell genug gehen mit dem Einbau generativer KI in den Studienalltag. Einführungen in die Programmnutzung schießen wie Pilze aus dem Boden. Ein Wettlauf hat begonnen, wer sich als erstes der neuen Technik an den Hals wirft. Dabei soll es selbstverständlich um einen „kritischen Umgang“ mit KI gehen. Vom „souverän Schreibenden“ ist die Rede, der freien Geistes über die neuen Tools verfügen kann; oder, mit einem neudeutschen Begriff, von „AI-Leadership“. Schade nur, dass der „souverän Schreibende“, wenn alles gut geht, am Ende eines akademischen Studiums steht, und nicht an seinem Anfang. Und auch, was mit einem „kritischen Umgang mit KI“ eigentlich gemeint ist und wie er zu erreichen sei, bleibt vage. **Mit der Kaffeemaschine die Wohnung streichen** Dass sich KI auch didaktisch produktiv verwenden ließe, wird sich, wenn die Unis so weitermachen, als Schutzbehauptung erweisen. Entscheidend ist nämlich nicht, was sich mit einer Maschine theoretisch alles tun ließe, sondern ihr primärer Sinn: das, wofür sie wirklich geschaffen wurde. Dieser primäre Sinn wird sich letztlich in der Breite durchsetzen. Nichts hindert mich daran, mit meiner Kaffeemaschine die Wohnung streichen zu wollen. Nur wird der Erfolg eher dürftig ausfallen. Natürlich könnte ein SUV-Fahrer im Prinzip auch langsam fahren. Nur wird er es nicht tun. Zumindest nicht auf Dauer. Mal ganz davon abgesehen, dass er sich, wenn er weiter hätte langsam fahren wollen, vermutlich kein SUV gekauft hätte. Den Beweis lieferte 2015 Jan Stremmler von der Süddeutschen Zeitung, in einem erheiternden Selbstversuch. Er wollte versuchen, mit seinem neu gekauften SUV ein genauso friedlicher und gesitteter Verkehrsteilnehmer zu bleiben wie zuvor. Zwei Tage lang hielt er das durch. Dann hatte er den Kampf Mensch gegen Maschine verloren: „Nach zwei Tagen hat der Wagen gewonnen. Ich zimmere die A9 runter, linke Spur, da schert ein silberner Kombi vor mir ein. In den Rückspiegel gucke ich […] schon lange nicht mehr. Wer 225 Kilometer pro Stunde fährt, muss nicht mit vielen Überraschungen von hinten rechnen. Aber vor mir mit 150 in die Überholspur ziehen? Ich knurre. Obwohl ich nie knurre. Ich ziehe den Hebel für die Lichthupe. Obwohl ich nie die Lichthupe betätige. Ich bin ein rücksichtsloser Arsch. Das Auto hat gesiegt.“ > _**Nur wer ohne Technik leben kann, kann auch mit Technik leben**_ Der primäre Sinn von KI ist es, ihren Nutzerinnen und Nutzern Arbeiten abzunehmen, dadurch individuelle Fähigkeiten abzubauen und auf diese Weise Abhängigkeiten zu schaffen, die möglichst ein Leben lang andauern. Bezahlt wird mit Geld oder Daten oder beidem. Wer heute gängige KI-Tools auf Herz und Nieren prüft, wird außerdem feststellen, dass sie dort, wo man sie rechtlich, ethisch und didaktisch unbedenklich verwenden könnte, kaum einen Mehrwert bieten. Man kommt mühelos auch ohne sie klar, oder nutzt andere, längst etablierte Hilfsmittel, Online-Bibliographien oder ähnliches, ohne das ständige Risiko des Datendiebstahls eingehen zu müssen. Der Reiz von generativer KI liegt also gerade im „Illegalen“ und Bedenklichen. Die Schwächen von KI-Tools werden sich möglicherweise als weniger entscheidend erweisen als die Schwächen der Spezies Mensch. Denn auf diese sind die meisten Tools abgestellt. Zu lernen ist anstrengend. Eine Maschine, die säuselt: „Drück‘ meine Taste, und Du wirst nie wieder leiden müssen“, kann da zu einer ernsten Versuchung werden. Hinzu kommt eine seit der Bologna-Reform von 1999 weitgehend auf den Hund gekommene Studienkultur. Wo Studierende mit heraushängender Zunge von Pflichtkurs zu Pflichtkurs gejagt werden; wo nur noch Credit-Points gezählt werden; wo am Ende alles auf eine bildungsschädigende Erhöhung des Tempos hinausläuft, die gerne mit dem Euphemismus: „Effizienz“ verbrämt wird, kann der Sirenengesang generativer KI für viele unwiderstehlich werden. Der Schreibforscher Otto Kruse hat sicherlich recht, wenn er mahnt, man solle Vertrauen in die Intelligenz junger Menschen haben. Dann allerdings müssen die Unis Strukturen schaffen, die ein solches Vertrauen auch rechtfertigen. **Ein kognitiver Schuldenberg** Was geschieht, wenn der primäre Sinn von generativer KI sich mehr und mehr durchsetzt, erweist eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT), die 2025 unter dem Titel „Your Brain on ChatGPT“ [‚Ihr Gehirn auf ChatGPT‘] veröffentlicht wurde. Dort wird der Begriff der „kognitiven Schulden“ eingeführt und folgendermaßen erläutert: Mit „kognitiven Schulden“ sei ein Zustand gemeint, „bei dem ausgelagerte Denkarbeit die eigene Lernfähigkeit und kritische Auseinandersetzung beeinträchtigt“. Eingeteilt in drei Gruppen, wurden 54 studentische Testpersonen gebeten, einen Essay zu schreiben. Die erste Gruppe arbeitete ausschließlich mit KI. Die zweite nutzte gängige digitale Hilfsmittel wie Google usw. Die dritte erledigte ihre Aufgabe ganz ohne technische Hilfsmittel. In einer vierten, optionalen Sitzung tauschten die KI-Gruppe und die technikfreie Gruppe die Plätze: Die KI-Gruppe musste nun ganz ohne Hilfsmittel auskommen, während die technikfreie Gruppe KI benutzen durfte. Dabei wurde die Hirnaktivität der ProbandInnen gemessen. Anschließend wurden die Testpersonen zum Inhalt ihrer Essays befragt. Die Ergebnisse waren wenig überraschend: Die Gruppe, die vor vorne herein mit KI gearbeitet hatte, machte die schlechteste Figur. Ihre Hirnaktivität lag weit unter jener der Gruppe mit gängigen Hilfsmitteln, vor allem aber der Gruppe ganz ohne technische Hilfsmittel. Im Laufe des Schreibprozesses, wenn man ihn denn überhaupt noch so nennen will, wurde sogar ein Absinken (!) ihrer neuronalen Aktivität beobachtet. Die Verfasser der Studie bezeichnen dieses Phänomen als „neuronale Effizienzanpassung“: Was das Gehirn nicht tun muss, das tut es eben auch nicht mehr. Bei den anschließenden Interviews war niemand aus der KI-Gruppe in der Lage, Zitate aus dem eigenen Text fehlerfrei wiederzugeben. Der Lerneffekt war also gleich Null. Als die KI-Gruppe dann auf sich allein gestellt war, stieg ihre Gehirnaktivität an. Sie erreichte aber nicht einmal im Ansatz das Niveau der technikfreien Gruppe. Die Teilnehmenden hatten sich „verschuldet“. „Kognitive Schulden“, so die Autoren der Studie, „verschieben die mentale Anstrengung kurzfristig, führen aber langfristig zu Kosten wie verminderter kritischer Nachfrage, erhöhter Anfälligkeit für Manipulation und geringerer Kreativität“. Eine unselbstständige, unkritische Bevölkerung, die mit den Mitteln des Netzes leicht zu manipulieren ist, ist der Wunschtraum der Autokraten. Egal, ob demokratisch umflort oder nicht. Generative KI im Studium: **Ausweg oder Irrweg?** Interessant waren die Ergebnisse der technikfreien Gruppe, die in der vierten Sitzung mit KI arbeiten sollte. Dort wurde die höchste neuronale Aktivität gemessen, höher sogar als bei derselben Gruppe in den ersten drei Durchgängen. Die Autoren der Studie erklären dies damit, dass die Teilnehmenden erstmals mit KI arbeiteten und sich in das Programm erst einarbeiten musste, sich aber vor allem in der Situation fanden, ihren zuvor eigenständig verfassten Text kritisch mit KI-generierten Entwürfen vergleichen zu können. Daraus lässt sich nur ein Schluss ziehen: Generative KI kann nicht didaktisch produktiv in die Vermittlung jener kognitiven Fähigkeiten eingebunden werden, für die sie eingesetzt werden soll. Diese müssen bereits vorher auf einem soliden Niveau vermittelt und eingeübt worden sein. Und zwar ohne KI. Wird KI eingesetzt, bevor diese kognitiven Fähigkeiten erworben sind, kann sie ihre Entwicklung sogar blockieren und führt zu einer deutlichen Schwächung der geistigen Leistungsfähigkeit. Zentrale geistige Fähigkeiten technikfrei einzuüben muss demnach das vorrangige Ziel von Bildungseinrichtungen sein, und nicht Fortbildungskurse für KI-Tools. Sonst wird es keinen „kritischen Umgang“ mit generativer KI geben können, sondern eben irgendwann nur noch KI. Mit Blick auf Tablets an Kindergärten und Schulen hatte der Neurowissenschaftler und Philosoph Manfred Spitzer diesen Umstand schon 2012 in seinem Buch „Digitale Demenz“ angemahnt: Wer kognitive Schulden schon in jungen Jahren übermäßig anhäuft, kann sie irgendwann nicht mehr abbezahlen. Wenn es also angeblich so sicher ist, dass KI sich im akademischen Studium durchsetzen wird: Was hindert dann die Unis daran, den Sinn des Studiums, nämlich die geistige Eigenständigkeit und Mündigkeit durch das Erkennen von Zusammenhängen, öffentlich gegen das lügenhafte Marketingversprechen grenzenloser Bequemlichkeit zu verteidigen? Man könnte ihnen dann schwerlich vorwerfen, sie würden die neue Technik nicht zur Kenntnis nehmen oder sie einfach aussitzen wollen. Wobei ich mir erlaube, darauf hinzuweisen, dass der Vorwurf der „Technikfeindlichkeit“, zumal an einer Universität, ohnehin eine aparte Idiotie ist: Es kann nicht die Aufgabe von Menschen sein, die in der Forschung und Lehre arbeiten, wie eine Horde Hofkinder jubelnd jeder Sau nachzulaufen, die durchs Dorf getrieben wird. Schon gar nicht, wenn diese Sau die Schweinepest hat. Es wird den Unis, wenn sie ihren Auftrag ernst nehmen, angesichts der neuen Erkenntnisse nichts anderes übrigbleiben, als die Nutzung generativer KI in den niederen Semestern bis zum Bachelor zu unterbinden. Gleichzeitig müssten mehr wissenschaftliche Schreibaufgaben gestellt werden, und die Unterstützung der Studierenden, deren Schwierigkeiten ohne technische Hilfe zu meistern, müsste zunehmen. Da man aber wissenschaftliches Arbeiten nicht in fünf Minuten lernen kann, müsste auch die Beschleunigung des Studiums beendet werden. Nur so bliebe eine Chance, dass Studentinnen und Studenten in den höheren Semestern tatsächlich in der Lage wären, generative KI eigenständig, zielgerichtet und didaktisch produktiv – eben „kritisch“ – für ihr Studium zu nutzen. Dort wäre dann auch der Platz für Workshops zu den neuen Programmen. Der Sinn dieser Maßnahmen wäre immer wieder zu erklären. Aufgabe der Unis wäre eine klare, wohlbegründete Positionsnahme gegen die Digitalisierung des Denkens, die das Misstrauen gegenüber KI vergrößern würde. Eine ideologische Gegenposition. Denn bei Lichte betrachtet ist die Digitalisierung weniger eine Technologie als eine Ideologie. Von den katastrophalen ökologischen Folgen der massenhaften Nutzung von KI ist in diesem Kommentar noch nicht einmal die Rede gewesen. Als der Taschenrechner auf den Markt kam, wurde nach langer Diskussion beschlossen, seine Benutzung an deutschen Schulen für die unteren Klassen zu verbieten und ihn erst in den höheren Klassen zuzulassen. Dort freilich wurden dann auch die gestellten Aufgaben anspruchsvoller. Die Gefährdung der geistigen Entwicklung junger Menschen durch generative KI lässt sich mit der durch einen simplen Taschenrechner nicht vergleichen. Genau dies ist aber nur ein weiterer Grund, bei der Wahl des hochschulpolitischen Umgangs mit der Herausforderung durch generative KI sorgsam vorzugehen und sich nicht von vorweg genommen Denkverboten verwirren zu lassen. **Fazit** KI wird die menschliche Kultur verändern und hat sie schon verändert. Ob sie sich dauerhaft im akademischen Studium etablieren wird, scheint weniger ausgemacht. Es sei denn, die Unis selbst sorgen dafür. So oder so gilt in kaum einem anderen Bereich menschlicher Tätigkeit so sehr der alte Satz: Nur wer ohne Technik leben kann, kann auch mit Technik leben. (1) Siehe „Schöne finstere Datenwelt. Die ökologischen Folgen der Digitalisierung“, Artikel von Joseph Steinbeiß, in: GWR 451, September 2020, https://www.graswurzel.net/gwr/2020/08/schoene-finstere-datenwelt/ **Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es _hier._** ###### **Wir freuen uns auch über Spenden auf unserSpendenkonto.** Leitartikel
www.graswurzel.net
November 12, 2025 at 9:00 AM
GWR kann bestellt werden, ein paar Aritkel sind online
#gwr502
- nie wieder
„Als zivile Gesellschaft den Finger in die Wunde legen“

Ein Gespräch mit dem Regisseur und Arzt Tuğsal Moğul über #rassismus und #rechtsruck […]
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dju.social
November 12, 2025 at 8:59 AM
#gwr502 #graswurzelrevolution

- „so süß wie maschinenöl“-Kolumne von Elmar Wiegand / @arbeitsunrecht
- Comic-Kolumne von @DrMauriceSchuhmann „Kaschieren, verändern und zensieren“
November 12, 2025 at 8:57 AM
Reposted by Graswurzelrevolution
Jenseits von Gaza:
Rana Salman ist Geschäftsführerin der israelisch-palästinensischen Graswurzelbewegung „Combatants for Peace“. In der Graswurzelrevolution Nr. 485 berichtete sie unter dem Titel „Auf Feindschaft eingeschworen – jetzt Partner*innen für den Frieden“ über die Arbeit ihrer Organisation. Im folgenden Artikel beschreibt sie die derzeitige Situation in dem seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland. (GWR-Red.) Wir saßen im Kreis, versammelt zu einem gemeinsamen Seminar, palästinensische und israelische Aktivist*innen von Combatants for Peace. In diesen Momenten schaffen wir nicht nur Raum für Strategie und Planung, sondern auch für die Wahrheit. Dort, in einem unserer Gesprächskreise, sprach Muneer, ein langjähriger palästinensischer Aktivist aus dem Flüchtlingslager Tulkarem, mit zitternder Stimme. Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er von der unerträglichen Last seines täglichen Lebens berichtete. Muneer ist Taxifahrer, Vater von vier Kindern und ein Mann, der mehr als 20 Jahre seines Lebens unserer Bewegung gewidmet hat. „Ich glaube an Gewaltlosigkeit“, sagte er leise, „an Würde und an die Möglichkeit einer Zukunft, die auf Menschlichkeit und nicht auf Hass aufbaut.“ Doch dann hielt er inne, seine Hände zitterten leicht. „Heute spreche ich zu euch nicht nur als Aktivist. Ich spreche zu euch als ein Flüchtling. Wieder einmal.“ Nur wenige Wochen zuvor war Muneer aus seinem Haus im Flüchtlingslager Tulkarem vertrieben worden. Jetzt lebt er als Vertriebener in einer kleinen Mietwohnung außerhalb des Lagers, die mehr kostet, als er sich leisten kann. „Früher habe ich in einer Wohnung gelebt, die mir gehörte“, sagte er uns, „ohne Miete. Es war nicht viel, aber es gehörte uns.“ Das tägliche Leben der Familie ist zu einer ständigen Herausforderung geworden. Und doch war es ein ganz gewöhnlicher Moment der Grausamkeit, der Muneer inmitten dieser Not am meisten erschütterte. Kürzlich wurde er an einem Kontrollpunkt von israelischen Soldaten angehalten. Sie durchsuchten sein Taxi, nahmen das Geld, das er an diesem Tag verdient hatte, und gingen davon. Keine Erklärung. Keine Anschuldigung. Einfach nur Diebstahl, untermauert durch eine Uniform und eine Waffe. „Sie haben mir alles genommen, was ich an diesem Tag verdient habe“, sagte er. „Ich konnte nichts tun“, fuhr er fort. Dies ist kein einmaliges Ereignis. Es handelt sich um ein Muster – eine vorsätzliche und systematische Zerstörung des zivilen Lebens im Westjordanland, insbesondere in den Flüchtlingslagern. Während die Welt ihre Augen in den letzten Monaten verständlicherweise auf den Gazastreifen gerichtet hat, hat sich die langsame und brutale Zerstörung der palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland in beinahe lautloser Weise beschleunigt. Was in Orten wie Tulkarem, Jenin und Nur Shams geschieht, ist kein Kollateralschaden. Es ist eine Strategie. Erst vor wenigen Monaten startete das israelische Militär eine der größten Operationen im Westjordanland seit der Zweiten Intifada. > _**„Ich glaube immer noch an die Solidarität zwischen Palästinenser*innen und Israelis. Und ich glaube immer noch daran, dass die Menschen auf der ganzen Welt sich kümmern – und handeln werden.“**_ Das Ausmaß der Zerstörung war schockierend. Strom und Wasser wurden abgestellt. Bulldozer wühlten sich durch die Straßen. Drohnen schwebten über der Stadt und Hubschrauber kreisten über dem Himmel. Ganze Stadtteile wurden dem Erdboden gleichgemacht. Nach Berichten der Vereinten Nationen und großer Menschenrechtsorganisationen wurden seit Jahresbeginn mehr als 40.000 Palästinenser*innen aus den Flüchtlingslagern vertrieben. Allein in Tulkarem wurden mehr als zwei Drittel der Häuser entweder zerstört oder unbewohnbar gemacht. Die Geschichte von Muneer ist nur eine von Tausenden. Aber es ist eine, die wir immer wieder erzählen müssen, denn was hier geschieht, ist mehr als eine physische Zerstörung. Es ist ein Angriff auf die Erinnerung. Auf die Zugehörigkeit. Auf die Identität. „Diese Zerstörung ist nicht zufällig“, sagte Muneer. „Sie wollen die Lager auslöschen – und damit auch unsere Geschichte. Unsere eigentliche Existenz als Volk. Wenn sie die Lager zerstören, glauben sie, dass sie die Erinnerung an die Nakba zerstören können.“ 1948, während der Nakba, wurde Muneers Familie, wie Hunderttausende von Palästi-nenser*innen, aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben. Sie flohen vor Gewalt und Enteignung und bauten sich schließlich im Flüchtlingslager Tulkarem ein neues Leben auf. Jahrzehntelang bauten sie sich aus den Trümmern ein Leben auf: Sie zogen Kinder groß, feierten Hochzeiten und tranken ihren Morgenkaffee in Häusern, die sie mit Hoffnung und Not gemeinsam aufgebaut hatten. „In mehr als dreißig Jahren habe ich mir ein Zuhause geschaffen“, sagte Muneer. „Ein Ort, der mit Wärme, Erinnerung und Bedeutung gefüllt ist. Der Geruch von Kaffee am Morgen. Die Schritte meiner Kinder. Die Stimme meiner Frau, die sie zum Essen ruft. Das waren nicht nur Erinnerungen – das war unser Leben.“ Jetzt ist all das weggerissen worden. Und die Hindernisse für eine Rückkehr sind nicht nur physischer Natur. Wie viele andere darf auch Muneer sein Lager nur mit Erlaubnis des israelischen Militärs wieder betreten – eine Erlaubnis, die fast nie erteilt wird. Was bedeutet es, zweimal im Leben ein Geflüchteter zu sein? Die Vertreibung über Generationen hinweg zu ertragen? Was bedeutet es, wieder aufzubauen, obwohl man weiß, dass alles wieder zerstört werden kann, ohne Vorwarnung oder Regressansprüche? Bei Combatants for Peace, einer Basisbewegung von Palästinenser*innen und Israelis, die sich gemeinsam für die Beendigung der Besatzung und eine gerechte Lösung für das Land einsetzen, weigern wir uns, die Vorstellung zu akzeptieren, dass Vertreibung, Zerstörung und Krieg unvermeidlich sind. Wahrer Frieden wird durch einen politischen Prozess entstehen. Wir werden im Angesicht der Ungerechtigkeit nicht schweigen Wir stehen zusammen, Palästi-nenser*innen und Israelis, um die Würde, die Gleichheit und die Menschlichkeit aller Menschen zu wahren. Aus diesem Grund handeln wir. Gemeinsam – Palästinen-ser*innen und Israelis – verteilen wir Soforthilfepakete an vertriebene Familien. Diese Taten der Fürsorge sind mehr als Wohltätigkeit. Sie sind Widerstand. Der gemeinsame Kampf ist nicht einfach. Aber er ist unerlässlich. Jedes Mal, wenn ein Israeli einem Palästinenser im Protest, in der Trauer, in der Hoffnung zur Seite steht, ist das ein Akt des Widerstands gegen das System, das versucht, uns zu spalten. Muneer glaubt trotz allem noch immer an diese gemeinsame Zukunft. Er beendete seine Aussage mit einer Stimme, die von Liebe, nicht von Hass geprägt war. „Dennoch habe ich die Hoffnung nicht verloren. Ich glaube immer noch an die Solidarität zwischen Palästinenser*innen und Israelis. Und ich glaube immer noch daran, dass die Menschen auf der ganzen Welt sich kümmern – und handeln werden.“ Wir können es uns nicht leisten, dies zu ignorieren. **Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es _hier._** ###### **Wir freuen uns auch über Spenden auf unserSpendenkonto.** Übersetzung aus dem Englischen: Bernd Drücke Kontakt zu den Combatants for Peace: https://cfpeace.org Leitartikel
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October 20, 2025 at 12:25 PM
Jenseits von Gaza:
Rana Salman ist Geschäftsführerin der israelisch-palästinensischen Graswurzelbewegung „Combatants for Peace“. In der Graswurzelrevolution Nr. 485 berichtete sie unter dem Titel „Auf Feindschaft eingeschworen – jetzt Partner*innen für den Frieden“ über die Arbeit ihrer Organisation. Im folgenden Artikel beschreibt sie die derzeitige Situation in dem seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland. (GWR-Red.) Wir saßen im Kreis, versammelt zu einem gemeinsamen Seminar, palästinensische und israelische Aktivist*innen von Combatants for Peace. In diesen Momenten schaffen wir nicht nur Raum für Strategie und Planung, sondern auch für die Wahrheit. Dort, in einem unserer Gesprächskreise, sprach Muneer, ein langjähriger palästinensischer Aktivist aus dem Flüchtlingslager Tulkarem, mit zitternder Stimme. Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er von der unerträglichen Last seines täglichen Lebens berichtete. Muneer ist Taxifahrer, Vater von vier Kindern und ein Mann, der mehr als 20 Jahre seines Lebens unserer Bewegung gewidmet hat. „Ich glaube an Gewaltlosigkeit“, sagte er leise, „an Würde und an die Möglichkeit einer Zukunft, die auf Menschlichkeit und nicht auf Hass aufbaut.“ Doch dann hielt er inne, seine Hände zitterten leicht. „Heute spreche ich zu euch nicht nur als Aktivist. Ich spreche zu euch als ein Flüchtling. Wieder einmal.“ Nur wenige Wochen zuvor war Muneer aus seinem Haus im Flüchtlingslager Tulkarem vertrieben worden. Jetzt lebt er als Vertriebener in einer kleinen Mietwohnung außerhalb des Lagers, die mehr kostet, als er sich leisten kann. „Früher habe ich in einer Wohnung gelebt, die mir gehörte“, sagte er uns, „ohne Miete. Es war nicht viel, aber es gehörte uns.“ Das tägliche Leben der Familie ist zu einer ständigen Herausforderung geworden. Und doch war es ein ganz gewöhnlicher Moment der Grausamkeit, der Muneer inmitten dieser Not am meisten erschütterte. Kürzlich wurde er an einem Kontrollpunkt von israelischen Soldaten angehalten. Sie durchsuchten sein Taxi, nahmen das Geld, das er an diesem Tag verdient hatte, und gingen davon. Keine Erklärung. Keine Anschuldigung. Einfach nur Diebstahl, untermauert durch eine Uniform und eine Waffe. „Sie haben mir alles genommen, was ich an diesem Tag verdient habe“, sagte er. „Ich konnte nichts tun“, fuhr er fort. Dies ist kein einmaliges Ereignis. Es handelt sich um ein Muster – eine vorsätzliche und systematische Zerstörung des zivilen Lebens im Westjordanland, insbesondere in den Flüchtlingslagern. Während die Welt ihre Augen in den letzten Monaten verständlicherweise auf den Gazastreifen gerichtet hat, hat sich die langsame und brutale Zerstörung der palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland in beinahe lautloser Weise beschleunigt. Was in Orten wie Tulkarem, Jenin und Nur Shams geschieht, ist kein Kollateralschaden. Es ist eine Strategie. Erst vor wenigen Monaten startete das israelische Militär eine der größten Operationen im Westjordanland seit der Zweiten Intifada. > _**„Ich glaube immer noch an die Solidarität zwischen Palästinenser*innen und Israelis. Und ich glaube immer noch daran, dass die Menschen auf der ganzen Welt sich kümmern – und handeln werden.“**_ Das Ausmaß der Zerstörung war schockierend. Strom und Wasser wurden abgestellt. Bulldozer wühlten sich durch die Straßen. Drohnen schwebten über der Stadt und Hubschrauber kreisten über dem Himmel. Ganze Stadtteile wurden dem Erdboden gleichgemacht. Nach Berichten der Vereinten Nationen und großer Menschenrechtsorganisationen wurden seit Jahresbeginn mehr als 40.000 Palästinenser*innen aus den Flüchtlingslagern vertrieben. Allein in Tulkarem wurden mehr als zwei Drittel der Häuser entweder zerstört oder unbewohnbar gemacht. Die Geschichte von Muneer ist nur eine von Tausenden. Aber es ist eine, die wir immer wieder erzählen müssen, denn was hier geschieht, ist mehr als eine physische Zerstörung. Es ist ein Angriff auf die Erinnerung. Auf die Zugehörigkeit. Auf die Identität. „Diese Zerstörung ist nicht zufällig“, sagte Muneer. „Sie wollen die Lager auslöschen – und damit auch unsere Geschichte. Unsere eigentliche Existenz als Volk. Wenn sie die Lager zerstören, glauben sie, dass sie die Erinnerung an die Nakba zerstören können.“ 1948, während der Nakba, wurde Muneers Familie, wie Hunderttausende von Palästi-nenser*innen, aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben. Sie flohen vor Gewalt und Enteignung und bauten sich schließlich im Flüchtlingslager Tulkarem ein neues Leben auf. Jahrzehntelang bauten sie sich aus den Trümmern ein Leben auf: Sie zogen Kinder groß, feierten Hochzeiten und tranken ihren Morgenkaffee in Häusern, die sie mit Hoffnung und Not gemeinsam aufgebaut hatten. „In mehr als dreißig Jahren habe ich mir ein Zuhause geschaffen“, sagte Muneer. „Ein Ort, der mit Wärme, Erinnerung und Bedeutung gefüllt ist. Der Geruch von Kaffee am Morgen. Die Schritte meiner Kinder. Die Stimme meiner Frau, die sie zum Essen ruft. Das waren nicht nur Erinnerungen – das war unser Leben.“ Jetzt ist all das weggerissen worden. Und die Hindernisse für eine Rückkehr sind nicht nur physischer Natur. Wie viele andere darf auch Muneer sein Lager nur mit Erlaubnis des israelischen Militärs wieder betreten – eine Erlaubnis, die fast nie erteilt wird. Was bedeutet es, zweimal im Leben ein Geflüchteter zu sein? Die Vertreibung über Generationen hinweg zu ertragen? Was bedeutet es, wieder aufzubauen, obwohl man weiß, dass alles wieder zerstört werden kann, ohne Vorwarnung oder Regressansprüche? Bei Combatants for Peace, einer Basisbewegung von Palästinenser*innen und Israelis, die sich gemeinsam für die Beendigung der Besatzung und eine gerechte Lösung für das Land einsetzen, weigern wir uns, die Vorstellung zu akzeptieren, dass Vertreibung, Zerstörung und Krieg unvermeidlich sind. Wahrer Frieden wird durch einen politischen Prozess entstehen. Wir werden im Angesicht der Ungerechtigkeit nicht schweigen Wir stehen zusammen, Palästi-nenser*innen und Israelis, um die Würde, die Gleichheit und die Menschlichkeit aller Menschen zu wahren. Aus diesem Grund handeln wir. Gemeinsam – Palästinen-ser*innen und Israelis – verteilen wir Soforthilfepakete an vertriebene Familien. Diese Taten der Fürsorge sind mehr als Wohltätigkeit. Sie sind Widerstand. Der gemeinsame Kampf ist nicht einfach. Aber er ist unerlässlich. Jedes Mal, wenn ein Israeli einem Palästinenser im Protest, in der Trauer, in der Hoffnung zur Seite steht, ist das ein Akt des Widerstands gegen das System, das versucht, uns zu spalten. Muneer glaubt trotz allem noch immer an diese gemeinsame Zukunft. Er beendete seine Aussage mit einer Stimme, die von Liebe, nicht von Hass geprägt war. „Dennoch habe ich die Hoffnung nicht verloren. Ich glaube immer noch an die Solidarität zwischen Palästinenser*innen und Israelis. Und ich glaube immer noch daran, dass die Menschen auf der ganzen Welt sich kümmern – und handeln werden.“ Wir können es uns nicht leisten, dies zu ignorieren. **Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es _hier._** ###### **Wir freuen uns auch über Spenden auf unserSpendenkonto.** Übersetzung aus dem Englischen: Bernd Drücke Kontakt zu den Combatants for Peace: https://cfpeace.org Leitartikel
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October 20, 2025 at 12:25 PM
#grwe501 #graswurzelrevolution
Widerstand und Solidarität in Lissabon

Das anarchistische Kulturzentrum #disgraca will seine Räume dem Immobilienmarkt entziehen
Franziska Wittig
#anarchie
https://www.graswurzel.net/gwr/2025/09/widerstand-und-solidaritaet-in-lissabon/
Widerstand und Solidarität in Lissabon
Die seit über zehn Jahren vorangetriebene Deregulierung des portugiesischen Wohnungsmarktes treibt Menschen an den Rand der Existenz und führt zu einer Elitisierung der kulturellen Landschaft. Das Wohnen in der Innenstadt Lissabons können sich viele nicht mehr leisten. Der Widerstand gegen diese Entwicklung ist bunt, doch auch politische Projekte haben mit steigenden Mieten und gekündigten Mietverträgen zu kämpfen. Aus diesen Gründen kauft das anarcho-kulturelle Zentrum Disgraça nun die Räume, die das Kollektiv schon seit zehn Jahren mit politischen Debatten, solidarischen Events, lauten Konzerten und dem Gefühl von Gemeinschaft und Widerstand belebt. **Spekulation und Wohnraumpolitik in Lissabon** In Portugal sind die Lebenshaltungskosten bereits vor der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine stark gestiegen. Die Inflationsrate für Lebensmittel lag dort 2022 bei 12,99 Prozent und 2023 bei 10,04 Prozent. Konkret bedeutet das, dass viele Lebensmittel in portugiesischen Supermärkten ähnlich teuer oder teurer sind als in Deutschland. Damit hält der Anstieg der Löhne nicht Schritt. Der Mindestlohn für eine Vollzeitstelle in Portugal ist von 485 Euro im Jahr 2014 schrittweise auf 820 Euro brutto im Jahr 2024 gestiegen, nachdem er zuvor aufgrund der europäischen Sparauflagen im Rahmen der Troika-Politik mehrere Jahre lang eingefroren war. Dieser Anstieg auf fast das Doppelte in zehn Jahren ist, gemessen an den Ausgaben, zu wenig. Vor allem macht aber vielen Menschen der extreme Anstieg der Mieten stark zu schaffen. Die Deregulierung des Immobilienmarktes in den Jahren zwischen 2009 und 2012 führte zur Abschaffung von Mietpreisbindungen. Auch steuerliche Anreize für Renovierungen wurden vom sozialen Zielen entkoppelt. Diese Liberalisierung, die Touristifizierung des Landes und Goldene Visa (1) sind drei von vielen Faktoren, die Investor*innen aus dem In- und Ausland angezogen haben. In den letzten Jahren wurde Lissabon zudem zu einem beliebten Ziel sogenannter digitaler Nomad*innen, die sich dort mit ihrem Einkommen aus reicheren Ländern niederlassen. Das im Oktober 2022 eingeführte D-Visum, reduzierte Steuern und eigens auf diese Zielgruppe fokussierte Agenturen (2) erleichtern ihnen die Ankunft. Vor der Großdemo „Retomamos a Cidade“ (Wir holen uns die Stadt zurück) im Rahmen der europaweiten Housing Action Days im April 2023 waren in Lissabon einige Graffiti zu sehen. (Lissabon, 2023) – Foto: Franziska Wittig Die Wohnungspolitik und der Tourismus sind dabei politisch umkämpft. Mit einem Volksbegehren wurde immerhin erreicht, dass die Stadt Lissabon im Frühjahr 2025 die Anmeldung neuer Ferienunterkünfte in vielen Stadtvierteln gestoppt hat. Die Initiative hatte einen Volksentscheid für die Stadt Lissabon gefordert. Dieser wurde allerdings vom Verfassungsgericht abgelehnt. Die Begrenzungen in kritischen Stadtvierteln stellen einen Kompromiss dar. Doch die Maßnahme kommt ein Jahrzehnt zu spät und ändert nichts mehr daran, dass beispielsweise im Stadtteil Santa Maria Maior 68,8 Prozent aller Wohnungen touristisch genutzt werden (3). Im Zentrum Lissabons ist die Zahl der Tourist*innen doppelt so hoch wie die der Einwohner*innen (4). Diese Veränderungen sind beim Gang durch die Stadt spürbar. Traditionelle Nachbarschaftskneipen werden nach und nach durch hippe Bars ersetzt und die Preise steigen um ein Vielfaches. Veranstaltungen und Konsum werden zum Luxus, wodurch der Lebensstandard sinkt und das Sozialleben leidet. Für viele Menschen ist dies bitter. Schon etwa 2017 war zu beobachten, dass Menschen, die ihr ganzes bisheriges Leben in der Hauptstadt verbracht hatten, sich die Mieten dort nicht mehr leisten konnten und gezwungen waren, in kleinere Städte zu ziehen. Der durchschnittliche Mietpreis in Portugal stieg von 4,30 Euro pro Quadratmeter im Januar 2015 auf 16,30 Euro im September 2024 (5). In Lissabon stiegen die Preise bei Neuvermietungen allein im Jahr 2022 um 36,9 Prozent (6) – ein Anstieg der noch deutlich über den Preissteigerungen in Madrid, Barcelona oder Mailand liegt. Und es ist kein Ende dieser Preisentwicklung in Sicht. Neuerdings werden viele Mietverträge nur noch für ein Jahr abgeschlossen, um im Anschluss die Miete beliebig erhöhen zu können. So wundert es nicht, dass junge Menschen in Portugal erst mit durchschnittlich 33,6 Jahren ihr Elternhaus verlassen – so spät wie in keinem anderen europäischen Land (7). > **_Der vielleicht anarchistischste Raum in Lissabon dürfte Disgraça sein. Im_ September 2015 öffnete das kulturelle Zentrum, das mit etwa 1000 m² auf vier Ebenen Raum für viele Aktivitäten bietet** Zunehmende Spekulation führt zu einer Immobilien- und Mietpreisblase. Die portugiesische Politik scheint sich dabei mehr für ausländische Investitionen zu interessieren als für das Wohl der Menschen, die in Portugal leben – eine Entwicklung, die auch eine Folge der Troika-Jahre ist. Der Staat dereguliert den Markt, setzt Programme zur Förderung von Investitionen auf und vertreibt Menschen aus klandestinen Siedlungen am Stadtrand, die viele Jahrzehnte geduldet waren. Die Wohnungsknappheit führt zu einem weiteren Preisanstieg. Dort wo dennoch eine Politik für mehr Wohnraum betrieben wird, ist diese investor*innenfreundlich. So wird etwa Wohnungsbau gefördert, Mietbeihilfen gewährt und Vermieter*innen, deren Miete unter einem bestimmten Wert liegt, sind von der Steuer befreit. An der grundsätzlichen Situation ändern diese Maßnahmen wenig, zumal in Lissabon 48.000 und in ganz Portugal 750.000 Wohnungen leer stehen. Auch gegen Hausbesetzungen, die bis vor kurzem oft geduldet waren, wird insbesondere in Lissabon und Porto zunehmend härter vorgegangen. Der Übergang von verspäteten Mietzahlungen zu Besetzungen ist hier fließend und steigende Lebenshaltungskosten verschärfen das Problem. 2023 stiegen die Anträge auf Zwangsräumungen um 17 Prozent (8) und ein weiterer Anstieg wird erwartet (9). Zudem weitet die spanische Firma Desokupa (9) derzeit ihren Aktionsradius auf Portugal aus (10). Das Unternehmen, das Ex-Polizist*innen, Ex-Militärs, private Sicherheitskräfte und Rechtsextreme beschäftigt, führt Räumungen in privatem Auftrag durch, operiert in einer rechtlichen Grauzone und ist für die Anwendung von Gewalt bekannt. **Lebendiger politischer Widerstand** Gegen diese Entwicklungen formieren sich seit geraumer Zeit Proteste und an den Wohnraumdemos der letzten Jahre nahmen Tausende teil. 2015 protestierten Aktivist*innen von Stop Demolições (11) gegen den Abriss der klandestinen Viertel Santa Filomena und Bairro de 6 de Maio in Amadora (12). Sie stellten sich den Abrissfahrzeugen entgegen und begleiteten die Bewohner-*innen solidarisch und teils auch juristisch. Die bis heute aktive Gruppe Habita (13) leistet ähnliche Arbeit. Gruppen wie Casa Para Viver (14), Habitação Hoje (15) und Stop Despejos (16) organisieren Solievents, Diskussionsveranstaltungen und Proteste rund um Wohnraum, Gentrifizierung und Touristifizierung. Die Gruppe „Parar o Hotel no Quartel da Graça“ hat eine Petition gegen die Einrichtung eines fünf-Sterne-Hotels in der historischen Kaserne im Altstadtviertel Graça ins Leben gerufen. Die Initiative schlägt stattdessen eine Nutzung des Gebäudes als Nachbarschaftszentrum vor (17) und hält ihre Versammlungen bewusst im öffentlichen Raum ab, um Nachbar*innen den Zugang zu erleichtern. Am 15. Juni 2025, dem südeuropäischen Aktionstag gegen Touristifizierung (18), und wenige Tage nach dem Feiertag des Sankt Antonius, dem Stadtheiligen von Lissabon, begleitete die Gruppe augenzwinkernd eben jenen Heiligen, der „aus seiner Kirche vertrieben wurde“, da in Lissabon „nicht einmal mehr die Heiligen vor Räumungen sicher sind“, zur Kaserne, die ein mögliches Zuhause werden könnte. **Bedrohte Zentren des Widerstandes** Gruppen wie die genannten nutzen kulturelle und politische Zentren, um sich zu organisieren, Materialien zu lagern oder auszuleihen und Veranstaltungen durchzuführen. Doch auch darüber hinaus sind politische Orte in der aktuellen Situation besonders essentiell. Sie sind der Ausgangspunkt politischer und ökologischer Kämpfe, bieten Raum für praktische Solidarität und wirken nicht zuletzt der Elitisierung des kulturellen Angebots entgegen. Allerdings haben diese Projekte und Zentren haben selbst mit den Auswirkungen der Touristifizierung und der steigenden Immobilienpreise zu kämpfen. Im folgenden einige Beispiele: 2023 wurde Sirigaita (19), ein kulturelles Zentrum und Plattform für viele politische und solidarische Gruppen, der Mietvertrag gekündigt. Nachdem der Investor keine Bereitschaft zeigte, in irgendeiner Form zu verhandeln, verweigerte Sirigaita im Februar 2024 die Schlüsselübergabe und startete die Widerstands-Kampagne „não se despeja um desejo” (man kann ein Verlangen nicht vertreiben). Im Mai 2025 stattete die Stadtverwaltung Lissabons dem kulturellen Zentrum RDA69 (20), das seit 2010 existiert, einen Spontanbesuch ab und entfernte Fahrradständer und Blumenkübel vor dem Projekt. Ironischerweise wurden selbige Fahrradständer vor einigen Jahren in Kooperation mit der Stadt angebracht und durch öffentliche Mittel finanziert. Aber nun passen sie offenbar nicht mehr in eine Stadt, die ordentlich aussehen und Kapital anziehen soll. Auch die bemalte Fassade und das mit Aufklebern beklebte Tor ließ die Stadtverwaltung ohne Absprache mit der Organisation oder deren Vermieterin überstreichen. Der selbstverwalteten Kneipe Zona Franca (21) wurde 2024 nach zwölf Jahren der Mietvertrag gekündigt. Auf das Angebot des Kulturvereins, der die Kneipe betreibt, in Zukunft deutlich mehr Miete zu zahlen, reagierte die Vermieterin ablehnend (22). Auch das klandestine Viertel Segundo Torrão auf der südlichen Tejo-Seite wurde nach und nach geräumt und die Häuser abgerissen. Die Nähe zu Lissabon und die Strände hatten zuvor zu einem starken Anstieg der Bodenpreise geführt. (Almada, 13.02.2023) – Foto: Franziska Wittig Einige weitere Projekte mussten bereits schließen oder befinden sich im Kampf. Aktivist*innen sehen einen „dringenden Bedarf an gesicherten Räumen“. Dies wird auf verschiedene Weise und in Solidarität untereinander versucht. **Antiautoritäre Räume über den Hügeln von Lissabon** Der vielleicht anarchistischste Raum in Lissabon dürfte Disgraça (23) sein. Im September 2015 öffnete das kulturelle Zentrum, das mit etwa 1000 m² auf vier Ebenen Raum für viel bietet (24): Zahllose Konzerte, Filmabende, Lesungen, Debatten ziehen immer wieder ein großes Publikum an und unterstützen auch politische Kämpfe anderer Gruppen. Auch Lesekreise und kleinere Gruppen nutzen die Räume. Der Sportraum steht allen Gruppen offen, die ihn gemeinschaftlich und unkommerziell nutzen wollen – sei es für Yoga, Kampfsport oder Shibari. Der DIY-Montag lädt wöchentlich zum Basteln, Nähen und Upcyclen ein. Und Donnerstags gibt es seit Jahren eine KüfA (Küche für Alle). Disgraça versteht sich als „Laboratorium für antiautoritäre Praktiken“. In der oft chaotischen horizontalen Organisierung ist das Lernen und Experimentieren ein wichtiger Teil. Genauso wichtig sind Solidarität und der Widerstand gegen Staat und Kapital. Wer das international vernetzte Zentrum über das Erdgeschoss betritt, kann im Buch- und Infoladen Tortuga stöbern. Die darunter liegenden drei Stockwerke werden auch liebevoll Katakomben genannt. Im Treppenhaus befindet sich der wahrscheinlich einzige Verschenkeladen Lissabons. Es gibt eine Werkstatt, einen Siebdruckraum und einen Proberaum für Bands. Dank der Hügellage befindet sich im zweiten Untergeschoss eine große Außenterrasse. Im dazwischen liegenden Stockwerk hat das viel ältere Bibliotheksprojekt BOESG (25) eine neue Heimat gefunden. Der 2015 für zehn Jahre abgeschlossene Mietvertrag war im Verhältnis zu heute sehr günstig. Trotzdem erlebte die Gruppe das Aufbringen der Miete immer wieder als Belastung. Mit einem neuen Vertrag und heutigen Mietpreisen könnte das Zentrum nicht weiter betrieben werden. Deshalb entschieden sich die Aktiven im März 2024 für den Kauf der Räume und starteten eine Kampagne, um die notwendigen 275.000 Euro über Crowdfunding, Soliveranstaltungen und Direktkredite zusammenzubringen. „Krass, ist das viel Geld“, sagten sie. Aber auch: „Wir wollen diese Räume für immer dem Immobilienmarkt entziehen.“ Als im September 2024 167.000 Euro zusammengekommen waren, unterschrieben sie einen Vorvertrag und zahlten eine Anzahlung von zehn Prozent, um den Kauf abzusichern. Solikonzerte in Paris, Leipzig, Berlin, Frankfurt, Amsterdam, Prag und vielen weiteren europäischen Städten halfen, kleine und mittlere Beträge beizusteuern. Im Sommer 2025 waren fünf in Disgraça beheimatete Bands in zwei Solitouren quer durch Europa unterwegs. Privatpersonen spendeten oder gaben zinslose Darlehen. „Die Solidarität, die wir erhalten haben, ist bewegend“, erzählt ein Aktiver aus dem Kollektiv. „Neulich bekamen wir eine Nachricht aus Mexiko. Dort haben Leute von uns gehört und spontan eine Soliveranstaltung organisiert. Sie haben uns 1.000 Euro überwiesen.“ Bis Oktober 2025 müssen noch weitere 40.000 Euro aufgebracht werden und anschließend sind weitere Einnahmen notwendig um Darlehen zurückzuzahlen. Der Kauf des Gebäudes wird die Wohnraumkrise in Lissabon nicht beenden. Aber er ist wichtig, um einen Freiraum solidarischen Miteinanders und politischen Widerstandes zu erhalten. Die Sicherung dieser Räume steht auch für die Kämpfe vieler weiterer Kollektive in Lissabon und Porto. (1) Bei den sogenannten Goldenen Visa handelt es sich um eine Möglichkeit für Nicht-Europäer*innen, durch Investition von mindestens 500.000 Euro in Immobilien in Portugal einen Wohnsitz zu erhalten. (2) Arte-Dokumentation aus dem Jahr 2022 zu diesem Thema: https://www.fernsehserien.de/arte-re/folgen/996-der-ausverkauf-von-lissabon-altstadt-ohne-einheimische-1607537 (3) Quelle: https://shorttermrentalz.com/news/lisbon-alojamento-local-neighbourhood-ban/ (4) Quelle: https://www.theguardian.com/world/2023/jul/29/portugals-bid-to-attract-foreign-money-backfires-as-rental-market-goes-crazy (5) Quelle: https://www.idealista.pt/media/relatorios-preco-habitacao/arrendamento/ (6) Quelle: https://pt.casafari.com/wp-content/uploads/2023/01/CASAFARI-Report-Q4-2022-Lisbon.pdf (7) Quelle: https://www.reuters.com/world/europe/young-portuguese-defer-dreams-housing-crisis-bites-2023-03-21/ (8) Quelle: https://www.idealista.pt/news/imobiliario/habitacao/2024/02/26/62940-despejos-de-casas-arrendadas-pedidos-dos-senhorios-sobem-17-num-ano (9) https://de.wikipedia.org/wiki/Desokupa (10) Quelle: https://www.idealista.pt/news/imobiliario/habitacao/2025/05/20/69770-despejos-ilegais-mp-investiga-empresa-espanhola-anti-okupas (11) https://www.facebook.com/stopdemolicoes/ (12) Nachdem ihre selbst gebauten Häuser über Jahrzehnte geduldet gewesen waren, sie Strom- und Wasseranschlüsse erhalten hatten und Steuern zahlten, wurden die dort lebenden meist migrantischen Menschen geräumt und ihre Häuser abgerissen. (13) https://habita.info/ (14) https://www.casaparaviver.pt/ (15) https://www.habitacaohoje.org/ (16) https://stopdespejos.wordpress.com/ (17) Quelle: https://www.dn.pt/local-geral/moradores-da-gra%C3%A7a-querem-uso-comunit%C3%A1rio-de-quartel-em-vez-de-constru%C3%A7%C3%A3o-de-hotel-de-cinco-estrelas (18) Quelle: https://www.noticiasaominuto.com/pais/2806150/manifestantes-saem-a-rua-contra-a-turistificacao-em-lisboa-as-imagens (19) https://sirigaita.org/ (20) https://rda69.net/ (21) https://zonafrancazonalibertada.wordpress.com/ (22) Quelle: https://www.timeout.pt/lisboa/pt/noticias/mais-uma-associacao-prestes-a-perder-a-casa-zona-franca-dos-anjos-tem-de-sair-ate-ao-fim-do-ano-110424 (23) https://disgraca.com/ (24) Das Video zur Crowdfunding-Kampagne gibt einige Einblicke: https://videos.coletivos.org/w/jJe94Ct4hoWiu3EJvfK9Xu (25) https://boesg.blogspot.com/ **Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es _hier._** ###### **Wir freuen uns auch über Spenden auf unserSpendenkonto.**
www.graswurzel.net
October 20, 2025 at 12:23 PM
#gwr501 #graswurzelrevolution
Eine Stimme der Deserteur*innen

#Nachruf auf #rudifriedrich, den Mitstreiter für eine solidarische Gesellschaft jenseits von #militarisierung und #Krieg #deserteur
Bernd Drücke
https://www.graswurzel.net/gwr/2025/09/eine-stimme-der-deserteurinnen/
Eine Stimme der Deserteur*innen
Im Juli 2025 ist Rudi Friedrich während seines Urlaubs bei einer Wanderung in den Bergen bei Como in Italien tödlich verunglückt. Die Graswurzelrevolution trauert um ihren Freund, Autor und Mitstreiter. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei Rudis Frau Karin und seiner Familie. (GWR-Red.) Rudi Friedrich war ein sehr guter Freund und Graswurzelrevolutionär. Sein plötzlicher Tod hat mich und viele Freund*innen erschüttert (1). Vor wenigen Wochen habe ich noch mit ihm telefoniert. Es ging um eine Veranstaltung mit russischen Deserteuren und die #ObjectWarCampaign, die Rudi als langjähriger Geschäftsführer von Connection e.V. maßgeblich organisiert hat und an der auch die GWR beteiligt ist. Neben Franz Nadler war Rudi das bekannteste Gesicht des 1993 in Offenbach gegründeten und später u.a. mit dem Aachener Friedenspreis gewürdigten Vereins zur Unterstützung von Deserteur*innen aus aller Welt. Rudi hat den Rundbrief KDV im Krieg mit herausgegeben und war seit Jahrzehnten regelmäßiger Autor der Graswurzelrevolution. Zuletzt getroffen habe ich ihn im Mai 2024, als er mit einer russischen Antimilitaristin das GWR-Heraus-geber*innentreffen besuchte, um die Arbeit der Genossin und ihrer Organisation vorzustellen und uns zu vernetzen. Ich hatte das große Glück, oft mit Rudi auf Podien sitzen zu dürfen, sei es zusammen mit eritreischen, israelischen, russischen oder türkischen Deserteuren oder auf dem Internationalen Filmfestival Münster 2007 im Cineplex bei der gemeinsamen Vorstellung des Camilo-Films über den ersten US-Deserteur des zweiten Golfkriegs, mit Regisseur Peter Lilienthal (2). **Rudi hatte einen trockenen Humor und war ein sehr solidarischer Mensch** Am 10. August 2005 wurde der türkische Kriegsdienstverweigerer und gewaltfreie Anarchist Mehmet Tarhan vom Militärgericht in Sivas zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Rudi und seine Lebensgefährtin Karin Fleischmann nahmen an zwei Verhandlungen als internationale Beobachter*innen teil. Anschließend sprach ich mit den beiden über ihre Motivation und ihre Erfahrungen. Rudi stellte klar, dass internationale Öffentlichkeit auch einen Schutz für die Betreffenden darstellt. Rudi: „Nach dieser hohen Haftstrafe mag man daran zweifeln. Aber vielfach konnten über die internationalen Aktivitäten Folter verhindert, die Gefängnisbedingungen verbessert oder die erneute Einberufung verhindert werden. Zudem wird in der Türkei die kleine Bewegung der Kriegsdienstverweigerer von den Medien praktisch nicht wahrgenommen. Es gibt zwar mehrere Hunderttausend Wehrpflichtige, die sich dem Militärdienst entziehen. Aber nur etwa 50 Personen haben ihre Verweigerung öffentlich erklärt und sich damit ganz bewusst gegen das Militär und die Militarisierung der Türkei gestellt. Da ist es ungeheuer wichtig, ihnen zu vermitteln, dass ihr Anliegen wichtig und bedeutungsvoll ist.“ (3) > _**Mit seiner ruhigen Art war er zugleich eine der lautesten Stimmen für die Durchsetzung des Menschenrechts auf Asyl für Deserteur*innen**_ Als 2016 Mohamed Fathy Abdo Soliman die Abschiebung drohte, bat Rudi mich, ein Interview mit dem ägyptischen Deserteur zu führen. Gesagt, getan. Das Interview (4) platzierten wir im Sommer 2016 auf der Titelseite der Graswurzelrevolution Nr. 410. Durch die Veröffentlichung, das Kirchenasyl und die Tatsache, dass Mohamed Fathy in seinem Heimatland Folter drohten, konnte eine Abschiebung letztlich verhindert werden. Rudi hat mit Connection e. V. tausende Deserteure und den Kriegsdienst verweigernde Männer und Frauen aus aller Welt bei der Asylsuche unterstützt. Mit seiner ruhigen Art war er zugleich eine der lautesten Stimmen für die Durchsetzung des Menschenrechts auf Asyl für Deserteur*innen. Während des Irakkrieges hat er zusammen mit Connection e.V. eine Solidaritätskampagne für den in Deutschland stationierten US-Soldaten André Shepherd organisiert, nachdem der sich dem Kriegseinsatz entzogen hat. Es gibt kaum jemanden, der so gute Kontakte zu Kriegs-dienstgegner*innen in aller Welt hatte wie Rudi. Er war exzellent vernetzt mit Gruppen in Afrika, Nord- und Südamerika, Südkorea, im ehemaligen Jugoslawien, in Israel, Algerien und anderswo. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 war er ein Motor der Solidaritätskampagne insbesondere für Deserteur*innen und den Kriegsdienst Verweigernde aus Russland, Belarus und der Ukrai- ne. Die russischen Anarcho-syndikalist*innen der KRAS haben ihn in ihrem Nachruf zu Recht als einen der „wichtigsten Antimilitaristen Europas“ (5) gewürdigt. Rudi wurde nur 62 Jahre alt und hinterlässt eine große Lücke in der internationalen antimilitaristischen Bewegung. Franz Nadler und Thomas Stiefel, Vorstandsmitglieder und Mitbegründer von Connection e.V., beschreiben Rudi in ihrem bewegenden Nachruf als unersetzbaren Freund, dem es gelang, auch bei Differenzen zu vermitteln: „Sein Tod stellt eine Zäsur dar. Aber die Arbeit wird weitergehen. Wie sie geleistet werden kann, ist derzeit in manchen Bereichen noch unklar. Die Haupt- und Ehrenamtlichen sind sich aber einig: Die Arbeit für die Verweigernden weltweit, für ein uneingeschränktes Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung und das Recht auf Asyl sind uns allen wichtig. Deshalb bitten wir um Unterstützung, damit Connection e.V. weiterhin dieses Ziel verfolgen kann.“ (6) Mit Rudi haben wir einen Mitstreiter für eine menschenfreundliche Gesellschaft jenseits von Gewalt, Herrschaft, Militarisierung und Krieg verloren. Er bleibt als großartiger Mensch in unserer Erinnerung. Lasst uns dafür kämpfen, dass sich seine Hoffnungen auf eine entmilitarisierte Welt erfüllen werden. (1) Nachrufe auf Rudi: https://taz.de/Friedensaktivist-Rudi-Friedrich-tot/!6102409/ https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192787.friedensbewegung-rudi-friedrich-stimme-der-kriegsdienstverweigerung-verstummt.html https://www.graswurzel.net/gwr/2025/07/gwr-trauert-um-rudi/ (2) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2024/06/also-habe-ich-mich-fuer-den-anarchismus-entschieden/ (3) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2005/10/einen-langen-atem-entwickeln/ (4) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2016/06/ich-glaube-nicht-an-gewalt/ (5) Siehe: https://aitrus.info/node/6322 (6) https://de.connection-ev.org/article-4515 **Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es _hier._** ###### **Wir freuen uns auch über Spenden auf unserSpendenkonto.**
www.graswurzel.net
October 20, 2025 at 12:22 PM
#gwr501 #graswurzelrevolution
Die Mitte hält nicht länger
John Holloway: Was machen wir mit unserer Hoffnung, unserer Verzweiflung?
#Krieg #frieden #hoffnung #Gaza
https://www.graswurzel.net/gwr/2025/09/die-mitte-haelt-nicht-laenger/
Die Mitte hält nicht länger
In seinen Büchern greift der irisch-mexikanische Politikwissenschaftler John Holloway (* 1947 in Dublin) auf zapatistische, unorthodox-neomarxistische und anarchistische Theorieansätze zurück und entwickelt sie weiter. Im Januar 2025 erschien in der GWR 495 unter dem Titel „Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten?“ ein Interview mit ihm. Diesmal dokumentieren wir Auszüge einer Rede, die er am 9. Mai 2025 an der Harvard Business School gehalten hat. Der Titel „Die Mitte hält nicht länger“ nimmt Bezug auf William Butler Yates’ Gedicht „The Second Coming“ („Die zweite Ankunft“), das erstmals 1920 veröffentlicht wurde und die Vision einer vollständigen Bedrohung der Menschheit schildert, in der alle Moral von den Menschen abgefallen und eine erwartete zweite Offenbarung durch Unheil unklarer Natur gefährdet ist (1). Die in den letzten Jahren in politologischen Analysen zu großer Bekanntheit gelangten Zeilen „Things fall apart; the centre cannot hold“ („Die Dinge zerfallen; die Mitte hält nicht länger“) stehen sinnbildlich für eine sich anbahnende große Krise mit hohem Vernichtungspotenzial. (GWR-Red.) **1. Gaza. Zu hoffen heißt, das Unsagbare zu sagen.** Gaza. Das deutlichste Zeugnis des Schmerzes in der heutigen Welt. Schmerz. Widerstand. Hoffnung. Gaza. Wenn ich hierherkomme, um in jenem Land zu sprechen, das der wichtigste Förderer und Unterstützer des gnadenlosen und systematischen Tötens und Verstümmelns von Abertausenden Menschen, viele davon noch Kinder – die Vernichtung der Hoffnung – ist, dann kann ich dies nur unter lautstarkem Protest tun, der mein Zögern über meine Entscheidung zum Ausdruck bringt. Gaza. Ich komme trotz meiner Zweifel hierher, um meine Solidarität mit Euch, die ihr in diesem Land lebt, trotz der Regierung, unter der ihr jetzt leidet und der Regierung, die ihr zuvor erlitten habt, zum Ausdruck zu bringen. Und um meinen Respekt für die Organisator:innen einer solchen Veranstaltung mit so subversiven Worten wie Rasse, Geschlecht und Gerechtigkeit auszudrücken. Und für Euch alle, die ihr, auf die eine oder andere Weise, in die falsche Richtung geht. Gaza, da nichts den Horror des gegenwärtigen Kapitalismus, die furchtbaren Folgen eines durch das Geld beherrschten gesellschaftlichen Systems, deutlicher illustriert. Gaza, weil wir das Schweigen brechen müssen, das furchtbare Schweigen der Komplizenschaft, das über der Welt schwebt, die Normalisierung der Hoffnungslosigkeit. Hoffnungslosigkeit umgibt uns. Sie hat viele Namen: Gaza, Sudan, Ukraine, der Klimawandel, das Massaker an der Biodiversität, Trump, Milei, Orbán, Putin, die wachsende Bedrohung durch einen Atomkrieg. (2) Und doch, mitten im Zentrum, sind wir hier zusammengekommen, um NEIN zu sagen, es ist an der Zeit, über radikale Hoffnung zu sprechen. Wir können die Hoffnungslosigkeit nicht akzeptieren, denn sie tötet alles wissenschaftliche Denken. Uns ist nur noch eine wissenschaftliche Frage geblieben: Wie brechen wir die gesellschaftliche Dynamik, die uns zur Selbstzerstörung der Menschheit treibt? Diese Frage kann nicht mit Hoffnungslosigkeit beantwortet werden. Hoffnungslosigkeit ist die Weigerung nach einer Antwort zu suchen, ein Aufgeben, eine Komplizenschaft, gleich wie widerstrebend auch immer. Also NEIN zur Hoffnungslosigkeit. Aber das führt uns nicht zu einer geistlosen Hurra-Hoffnung. Es gibt ein dem Begriff Hoffnungslosigkeit verwandtes Wort, das aber auch eine andere Bedeutung trägt: Verzweiflung. Verzweiflung ist nicht Hoffnungslosigkeit. Es ist die Weigerung, ohne Hoffnung zu sein, eine Weigerung, unsere Wut und Hoffnung aufzugeben, selbst in einer Welt, die uns sagt, wir sind verrückt, weiterhin daran zu glauben, dass eine andere Welt möglich sei. In Wörterbüchern wird Verzweiflung oft mit Hoffnungslosigkeit gleichgesetzt, aber dies trifft es nicht. Ich habe eine Definition gefunden, die dem, was ich fühle, näherkommt: „Verzweifelt: den Willen zu zeigen, jegliches Risiko auf sich zu nehmen, um eine schlechte oder gefährliche Situation zu ändern“. Vielleicht nicht „jegliches Risiko“, aber ja, ein Zorn um eine schlechte oder gefährliche Situation zu ändern, eine Entschlossenheit, eine schlechte Situation zu ändern, die schlechte Situation, die der gegenwärtige Kapitalismus ist. Verzweiflung, die Welt zu ändern, da wir wissen, dass sie nicht so sein muss, dass wir die Fähigkeit besitzen, etwas anderes zu erschaffen. Verzweiflung schließt Frustration über das ein, was wir machen könnten, Frustration unseres Reichtums, unserer Fähigkeit, etwas anderes zu erschaffen. Verzweiflung ist die Hoffnung im Sturm, Hoffnung in-und-gegen den Sturm, Hoffnung in-gegen-und-jenseits des Sturmes. Vielleicht besteht die einzige Art und Weise heute über radikale Hoffnung zu sprechen, darin, sie als Verzweiflung zu bezeichnen. Hoffnung als die Negation der Anti-Hoffnung. Hoffnung als Widerstand. Diejenigen, die solche Sachen verfolgen (und ihr solltet dies tun, denn sie sind diejenigen, die seit mehr als dreißig Jahren die Hoffnung am deutlichsten zum Ausdruck bringen) werden merken, dass in meinem Hervorheben des Begriffs Verzweiflung, die Rede von Marcos auf dem von den Zapatistas organisierten Treffen im Dezember widerhallt. Die Herausforderung, so legte er damals dar, liege darin, „unsere Verzweiflung zu organisieren“. (3) 2. Wahrscheinlich teilen alle hier Anwesenden das Gefühl der Verzweiflung. Der Kapitalismus bringt Verzweiflung hervor. In allen möglichen Formen. Auf einer persönlichen Ebene, die tiefe und zunehmende Unsicherheit des Lebens: Wie kann ich an die Uni gelangen, einen Arbeitsplatz oder eine Festanstellung erhalten? Wie kann ich eine Wohnung finden. In welcher Welt werden meine Kinder leben? Sollte ich überhaupt Kinder in so eine Welt bringen? Dies alles ist Teil einer zunehmenden gesellschaftlichen Verzweiflung: seht was mit den Migrant:innen passiert, schaut auf die Biodiversität, von der das menschliche Leben abhängt und die gerade zerstört wird, seht auf den Klimawandel, der zunehmend außer Kontrolle gerät, seht auf den Aufstieg der neuen Rechten, seht auf die wachsende Gefahr weiterer Kriege. Aber wo sollen wir mit unserer Verzweiflung, unserer trotz allem bestehenden Hoffnung hin? Das Offensichtlichste in der gegenwärtigen Situation ist, wieder zur Mitte zurückzudrängen, zu hoffen, dass die Demokraten die Zwischenwahlen in den USA gewinnen, dass weder Trump noch Vance die Wahlen 2028 gewinnen werden, dass wir in zehn Jahren auf Orbán, Meloni, Modi, Erdoğan, Trump wie auf einen schlechten Traum, ein unseliges Anzeichen, zurückschauen werden, dass es eine Rückkehr von Etwas geben wird, das wir als Zivilisation erkennen werden. Die Mitte hält nicht länger. Offensichtlich hat hier in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern die Mitte nicht gehalten. Dennoch verbleibt sie dort als nostalgischer Magnet, ein unwiderstehlicher Anziehungspunkt zur Welt, die um uns herum zerbricht. Dieser nostalgische Antrieb zu einer Rückkehr zur Normalität ist wahrscheinlich unvermeidbar, vielleicht gar wünschenswert. Und dennoch müssen wir bedenken, dass die Mitte nicht gehalten hat, nicht halten konnte und dass wir deswegen über den Kampf zu dessen bloßer Wiederherstellung hinausgehen müssen. 3. Wir betrachten die Mitte jetzt durch die Perspektive der gegenwärtigen Attacke. Die Angriffe auf kritisches Denken in den Universitäten, die Angriffe auf Migrant:innen, die Auflösung der gesetzesbasierten Weltordnung und so weiter. Allgemeiner können wir uns die Mitte vielleicht als eine Art weltweiten Gesellschaftsvertrag vorstellen, eine Art von Normalität, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde und die die Idee der Demokratie als wünschenswert, Mindestniveaus gesellschaftlichen Wohlstands, ein gewisses Verständnis von Politik, der Art von Beziehungen, die zwischen Staaten herrschen sollten, einer Vorstellung der Menschenrechte und des Rechtsstaats umfasst. > _**Wir sollten für die Verteidigung der liberalen Demokratie kämpfen, aber wir müssen darüber hinaus schauen, weitergehen und fragen, ob die gegenwärtige Situation einen Durchbruch in der Entwicklung einer radikalen Politik der Hoffnung erschaffen könnte.**_ Ich möchte diese Normalität nicht idealisieren. Sie ist eine Phase der Zivilisation des Geldes, eine mörderische Zivilisation, die auf Ausbeutung, Rassismus, Sexismus, Kolonialismus, Unterdrückung, Inhaftierung und der Zerstörung anderer Lebensformen aufbaut. Nichtsdestotrotz gibt es eine Form der Normalität, eine Form des Gesellschaftsvertrages, die manchmal als keynesianischer Wohlfahrtsstaat bezeichnet wird, die dann von dem, was viele als Neoliberalismus bezeichnen, angegriffen wird, der aber, insbesondere von der Gegenwart aus betrachtet, mehr Kontinuität aufwies, als es den Anschein hat: dasselbe System von Beziehungen zwischen Staaten, ein symbolischer Respekt der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechtsstaates. 4. Diese Mitte wird im Anschluss an die globale Finanzkrise von 2008 zunehmend in Frage gestellt. Es wird deutlich, dass sie nicht als gegeben erachtet werden kann. Unabhängig davon, ob man diese Normalität attraktiv findet oder nicht oder wenigstens besser als das, was jetzt durchgesetzt wird, gibt es mindestens zwei Gründe dafür, zu glauben, dass sie nicht länger realistisch ist. Zuerst einmal gab es dafür eine materielle Grundlage. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie das Ergebnis einer großen Umstrukturierung des Kapitals, die durch die Zerstörung und das Gemetzel des Krieges erreicht wurde. Dieser Aufschwung der Produktivität und Profitabilität kam seit den 1960er und 1970er Jahren zunehmend unter Druck. Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-System (4) und der Neuorientierung der Politik unter Reagan und Thatcher hing die Reproduktion des Kapitalismus zunehmend von der beständigen Ausweitung der Schulden ab, das heißt, nicht von tatsächlich produziertem Mehrwert, sondern von der Erwartung einer zukünftigen Produktion von Mehrwert. In den letzten vierzig Jahren hat es eine beispiellose Ausweitung der Schulden im weltweiten Maßstab gegeben und dies hat zu einer Ausweitung der systemischen Fragilität geführt, ein Ausdruck der Kluft zwischen der Akkumulation des Werts und dessen Ausdruck in Geldform. Diese Fragilität wird im Wesentlichen von der US-amerikanischen Federal Reserve und anderen Zentralbanken verwaltet, aber während der Finanzkrise von 2007/2008 hat sie exponentiell zugenommen und die latente Drohung des Zusammenbruchs besteht weiterhin dauerhaft. Anders ausgedrückt, ist die ökonomische Grundlage der Normalität, an die wir uns gewöhnt haben, zunehmend zerbrechlich geworden. Anstatt also eine Politik des siegreichen Kapitals zu sein, ist (oder war) der Neoliberalismus die Politik seiner Krise. Der andere Grund dafür, die Möglichkeit der Wiederherstellung der Mitte in Frage zu stellen, ist das Ausmaß an Wut und Verzweiflung, die sie hervorgebracht hat. Das Versprechen wachsenden persönlichen Wohlstandes im Gegenzug für die Akzeptanz des Systems und das Verschließen unserer Augen vor dessen zerstörerischer Kraft, ein zentraler Bestandteil des Nachkriegsgesellschaftsvertrages, wurde über die letzten ca. vierzig Jahre für den Großteil der Bevölkerung nicht eingelöst. Die scheinbar zufällige Akkumulation gigantischen Reichtums in den Händen einiger Weniger hat dazu beigetragen, die Wut in Ressentiment zu verwandeln. Wie Abahlali baseMjondolo, die wichtige Bewegung der Armen und Slumbewohner:innen in Südafrika, nach den Unruhen im Juli 2021 gesagt hat: „Abahlali hat immer davor gewarnt, dass sich die Wut der Armen in viele Richtungen entwickeln kann. Wir haben immer wieder davor gewarnt, dass wir auf einer tickenden Zeitbombe sitzen“. (5) Die Mitte, die Normalität der zurückliegenden Jahre, baute auf zwei Zeitbomben auf: die finanzielle Fragilität und wachsendes Ressentiment. Es ist wahrscheinlich weder wünschenswert noch realistisch, sie wiedererstehen zu lassen. Wir sollten sicher für die Verteidigung der liberalen Demokratie kämpfen, aber wir müssen darüber hinaus schauen, weitergehen und fragen, ob die gegenwärtige Situation einen Durchbruch in der Entwicklung einer radikalen Politik der Hoffnung erschaffen könnte. 5. Wenn die Mitte nicht länger hält, kann es dann die Rechte? Wir können es nicht wissen. Sie drängt uns sicher in Richtungen, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen, in Bezug auf die Zerstörung des Klimas und die Möglichkeit eines Atomkrieges, vielleicht wird es ihr gelingen, der Menschheit einen Alptraum zu bescheren. Aber es ist ebenso gut möglich, dass sie, angesichts des Widerstandes der Bevölkerung auf der einen Seite, und, paradoxerweise, auf der anderen Seite aufgrund der Kräfte des Marktes, das heißt, aufgrund ihres Unvermögens, die Realitäten der Macht des Geldes zu verstehen und zu akzeptieren, zusammenbrechen wird. **Worin also besteht die Hoffnung in dieser Situation?** Zuerst einmal muss sie ein Schrei der Verweigerung, ein NEIN, sein. Ich würde denken, dass wir das hier alle teilen. Es stellt sich in den Massenprotesten der letzten Wochenenden dar und es ist zu hoffen, dass sie weiterhin wachsen werden. **Aber wohin bringt uns dieses NEIN?** Vielleicht wieder zurück in die Mitte, die liberale Demokratie. Möglicherweise werden in den nächsten Wahlen die vernünftigen Menschen gewinnen, werden die Missgünstigen verlieren. Aber dann wird die Zerbrechlichkeit weiterhin wachsen und auch das Ressentiment. Es muss uns gelingen, die ressentimentgeladene Wut, die hinter dem Aufstieg der Rechten steht, als unsere zu reklamieren. Unsere Antwort kann nicht sein: „Seid vernünftig, stellt Eure Wut zurück!“ Auch unsere Wut richtet sich gegen ein System, das uns erniedrigt und tötet. Lassen sich die unterschiedlichen Formen der Wut so kanalisieren, dass die totalisierende, tödliche Macht des Geldes geschwächt oder gebrochen wird, statt sie zu stärken? Hoffnung ist heutzutage die Aufgabe, auf welche Art und Weise wir unsere Wut kanalisieren. Die Wut der Armen kann sich in viele Richtungen entwickeln, sagt Abahlali. Eine Richtung scheint derzeit dabei zu dominieren: Wut als Ressentiment. Aber es gibt auch eine andere Wut, die durch Tausende Bewegungen weltweit zum Ausdruck gebracht wird. Es handelt sich um das, was die Zapatistas „digna rabia“, nennen, was schwer zu übersetzen ist, vielleicht würdige Wut oder rechtschaffene Wut: eine Wut, die aus der täglichen Unterdrückung der existierenden Gesellschaft entspringt und uns auf eine Welt der gegenseitigen Anerkennung unserer Würde verweist. Anders ausgedrückt, eine Wut gegen die Art und Weise, in der gesellschaftliche Verhältnisse derzeit organisiert sind (Kapitalismus), die zur Erschaffung einer anderen Welt, eine Welt vieler Welten, drängt. Eine Wut gegen die Herrschaft des Geldes und ein Drängen zur Entwicklung des Lebens. Eine Wut des Ressentiments und eine Wut der Hoffnung. Hier gibt es ein Problem der Grammatik der Identifikation. Das Ressentiment identifiziert, es richtet seine Wut gegen bestimmte Gruppen von Menschen, gleich ob Migrant:innen oder Akademiker:innen der Harvard Universität. Es wütet gegen die Elite als Gruppe von Menschen, stellt aber das System, das Eliten oder Migrant:innen hervorbringt, nicht in Frage. Der Aufstieg der Rechten ist eine Explosion identitärer Politik, die entmenschlichend wirkt, indem Gruppen von Menschen als Objekte oder abstrakte Kategorien behandelt werden. Identifizierung ist ein Prozess der von einer unbestimmten Wut ausgeht und sich auf bestimmte menschliche Objekte konzentriert, gleich ob sie Schwarze, Araber:innen, Jüdinnen und Juden, Ausländer:innen oder transsexuelle Menschen sind. Der Prozess der Identifikation wird durch rechte Gruppen gestärkt, er ist aber auch tief in die existierende Gesellschaft eingeschrieben. Der Staat ist ein Projekt der Identifikation. Seine Existenz selbst ist die Erklärung einer scharfen Unterscheidung zwischen „uns“ und jenen Anderen, Ausländer:innen, die wir misshandeln und, wenn nötig, töten können. Die Existenz des Staates selbst als Form gesellschaftlicher Organisation ist ein Prozess des „Zum-Anderen-Machen“ (6), eine Schule des Faschismus und des Krieges. Eine Politik der Hoffnung geht von derselben Wut aus, die von der Rechten identifiziert wird, widersteht aber dem Prozess der Identifikation. Indem sie überfließt. Eine Politik der Hoffnung ist notwendigerweise eine anti-identitäre Politik, nicht in dem Sinne der Negation der Identität, sondern im Sinne der Bewegung in-gegen-und-darüber-hinaus. Wir sind Indigene aber unser Kampf geht darüber hinaus, für eine Welt, die auf der Anerkennung der menschlichen Würde begründet ist. Wir sind Kurden, eine unterdrückte Nation, aber unser Kampf geht darüber hinaus, für die Erschaffung einer anderen Art Welt. Wir kämpfen gegen den Klimawandel, aber wir wissen, dass es nicht nur eine Frage fossiler Brennstoffe ist, sondern ein Kämpfen gegen eine Welt, in der die Entwicklung vom Streben nach Profit geprägt ist. Wo eine identitäre Politik schließt und Antworten gibt, öffnet eine Politik der Hoffnung und stellt Fragen. Preguntando caminamos, fragend gehen wir, wie die Zapatistas es ausdrücken. Eine Politik der Hoffnung ist eine Politik des Fragens, Suchens, Diskutierens. Seine Organisationsform hat eine lange Geschichte, die beständig erneuert wird: die Versammlung, der Rat, die Kommune, eine Organisationsform, die so beschaffen ist, dass die Äußerung von Meinungen und die Diskussion von Lösungen befördert werden, weit entfernt vom Staat oder der Partei, die die richtige Linie vorschreibt. Ein Ort wie dieser, an dem wir nicht übereinstimmen müssen, wo wir sagen können: „Dies möchte ich sagen. Was denkst du?“ Ein Ort, an dem Wut geteilt wird und Etikettierungen einfach durch dieses Teilen unlesbar werden. 6. Hoffnung ist folglich würdige Wut, eine Wut, die entschlossen ist, ein gesellschaftliches System abzuschaffen, das uns zerstört und stattdessen eine Welt zu erschaffen, die auf der gegenseitigen Anerkennung der Würde begründet ist. Wahnsinn, an die Harvard Business School zu kommen und zu sagen, dass wir den Kapitalismus abschaffen müssen. Und dennoch, ein notwendiger Wahnsinn. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Fortführung der existierenden Form gesellschaftlicher Organisation mit dem Überleben des Menschen unvereinbar ist. Sicher, der Kapitalismus ist seit jeher eine Kombination von Erschaffung und Zerstörung gewesen, aber mittlerweile wird seine zerstörerische Seite zunehmend beherrschend. Hoffnung ist Wahnsinn. Hoffnung ist Verzweiflung, die auf dem Grat des Abgrunds der Hoffnungslosigkeit balanciert. Aber wir müssen unseren Wahnsinn annehmen, ihn laut und deutlich aussprechen. Denn wir müssen gewinnen. Dieses Mal, müssen wir, die ewigen Verlierer, gewinnen, wenn wir uns nicht zurücklehnen wollen und den Ritt in den Abgrund der Katastrophe, hinein in die mögliche Auslöschung, genießen wollen. (1) http://www.luxautumnalis.de/william-butler-yeats-second-coming/ (2) Diese Aufzählung ist nicht vollzählig, kann es gar nicht sein. So müssen aus John Holloways Sicht, aber auch aus der Sicht des Offenen Marxismus, den Holloway, Bonefeld und viele andere begründet haben, sicher auch Putin und der russische Angriffskrieg sowie China, das unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei einen Herrschaftsanspruch auf bislang nicht zu seinem nationalen Territorium gehörige Gebiete erhebt, zu diesen Polen der Hoffnungslosigkeit gerechnet werden. Dass man im Zentrum der westlichen Hoffnungslosigkeit allerdings deren westliche Vertreter hervorhebt, sollte ebenfalls nicht verwundern; Anm.d.Ü. (3) Beitrag „La Cofa del Vigía: Un largavista hacia el ayer“ (Der Mastkorb des Wachturms: ein langer Blick zum Gestern) von El Capitán Marcos über die Geschichte der Zapatistas auf dem internationalen Treffen „Encuentros de Resistencia y Rebeldía“ (Treffen des Widerstands und der Rebellion), das vom 28.-30.12.2024 vom Centro indígena de Capacitación Integral (CideCI; „Indigenes Zentrum zur integralen Ausbildung“), San Cristóbal de las Casas, Chiapas, Mexiko, organisiert wurde. Hier ist der spanische Originalbeitrag zu hören: https://enlacezapatista.ezln.org.mx/2024/12/27/transmision-en-vivo-de-las-mesas-de-la-primera-sesion-de-los-encuentros-de-resistencia-y-rebeldia/; Anm.d.Ü. (4) Auf der Konferenz im US-amerikanischen Bretton Woods vom 1.-22.07.1944 wurde eine neue internationale Finanzarchitektur beschlossen, die die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds als UN-Institutionen begründete und auf der der Goldstandard mit festen Wechselkursen festgelegt wurde. Die Aufhebung des letzteren 1973 markiert das Ende dieser Phase und den Beginn des „Neoliberalismus“; Anm.d.Ü. (5) Gemeint sind die auch als Zuma-Unruhen bekannten Aufstände in den Provinzen KwaZulu-Natal und Gauteng zwischen dem 9.-18.07.2021. Sie richteten sich gegen die Verhaftung des ehemaligen südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma, der sich weigerte, in einem gegen ihn gerichteten Korruptionsverfahren auszusagen. Bei den Protesten starben 354 Menschen, Tausende wurden verhaftet. Die Stellungnahme von Abahlali baseMjondolo ist hier zu finden: https://abahlali.org/node/17320/ (6) i.O. „othering“; also die Heraushebung der eigenen sozialen Existenz gegenüber anderen Menschen, die dadurch zu „Fremden“ gemacht werden, was deren Ausschluss aus Gruppen rechtfertigt; Anm.d.Ü. Übersetzung aus dem Englischen: Lars Stubbe, 18.05.2025
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