Blog von Armin Wolf
arminwolf.at.web.brid.gy
Blog von Armin Wolf
@arminwolf.at.web.brid.gy
Armin Wolf ist Journalist und TV-Moderator. Sein Blog befasst sich v.a. mit Medien und Politik.

[bridged from https://arminwolf.at/ on the web: https://fed.brid.gy/web/arminwolf.at ]
Der Himmel könnte noch blauer sein
Vor genau einem Jahr habe ich meinen X-Account stillgelegt und bin - gemeinsam mit vielen anderen Journalist·innen - auf Bluesky gewechselt. Hat sich der _#eXit_ gelohnt? Ich muss gestehen, meine Bilanz ist ein wenig durchwachsen. Meinen Entschluss, X/Twitter zu verlassen, habe ich nicht eine Sekunde bereut. Die Plattform ist unter Elon Musk derart toxisch geworden, dass es schlicht keinen Spass mehr gemacht hat, meinen Account dort zu öffnen. Sinnvolle Diskussionen waren – jedenfalls mit einem sehr großen Account (ich hatte zuletzt ca. 640.000 Follower) – kaum mehr möglich. Konstruktive oder interessante Mentions gingen in einer Flut von Hate-Posts einfach unter. Ich hab das vor einem Jahr im Detail hier beschrieben. Dazu kommt, dass Elon Musk X als rechtsradikale Agitprop-Plattform und gigantische _fake news_ -Schleuder missbraucht und dass X bei _hate speech_ nicht nur seine eigenen Richtlinien ignoriert, sondern auch konsequent Gesetze missachtet und Behörden den Mittelfinger zeigt. (Mehr dazu hier und hier. In einem aktuellen FALTER-Podcast hat mich Florian Klenk dazu ausführlich befragt.) Es ist mir ein echtes Rätsel, dass österreichische Politiker·innen aller Parteien vom Bundespräsidenten abwärts, X noch immer als Kommunikations-Plattform nützen und den permanenten Rechtsbruch damit auch noch belohnen. Das Ärgerliche daran ist auch: Weil viele relevante politische Akteure und auch viele internationale Expert·innen weiterhin (nur) auf X aktiv sind, muss ich die Plattform beruflich weiter beobachten. Auch bei internationalen _breaking news_ ist X noch extrem schnell. Doch jeder Besuch dort fühlt sich mittlerweile an, wie auf einer riesigen Müllkippe nach irgendwas Verwertbarem zu suchen. Dagegen ist es auf Bluesky ziemlich idyllisch. Für meinen Geschmack leider etwas zu idyllisch. Ich hatte erwartet und gehofft, dass sich Bluesky schneller entwickeln würde – in seiner Reichweite, vor allem aber auch in seiner inhaltlichen Breite. Die anonymen _„Heul leise, du linksversiffte Zecke!“_ -Trolle mit Deutschland-Fahne im X-Profil vermisse ich wirklich nicht, aber mehr – auch kontroverse – konstruktive Diskurse. Sehr viele konservative Meinungsmacher·innen aus Österreich und Deutschland sind leider auf X geblieben. Noch mehr vermisse ich auf Bluesky aber viele internationale Expert·innen, deretwegen ich X lange so nützlich fand. Ich hatte auch vermutet, Bluesky würde schneller wachsen. Bereits nach ein paar Wochen hatte mein Account 50.000 Follower, viel rascher als bei meinem Start auf Twitter Anfang 2009. Doch seither hat sich nur mehr wenig getan. Aktuell stehe ich bei ca. 67.000. Das sind natürlich sehr viele Menschen, aber doch nur gut ein Zehntel meiner einstigen X-Follower (wobei niemand weiß, wieviele davon Fake-Accounts waren). Was auf Bluesky sehr gut funktioniert: Der Grundton in Debatten ist in der Regel konstruktiv, es kommen erstaunlich viele Reaktionen und die Plattform wird anscheinend ordentlich moderiert. Seit einigen Wochen gibts endlich auch direkt in Bluesky Lesezeichen! Und viele – auch internationale – Medien sind da. Für einen soliden Nachrichten-Überblick und freundliche Gespräche mit klugen und interessierten Menschen reicht die Plattform völlig aus. Und das ist ja nicht nichts. Nach einem Jahr fühlt sich Bluesky für mich noch immer an wie Twitter so um 2010, 2011. Das war sehr fein, aber Twitter 2014/15 war noch deutlich interessanter. Definitiv ist Bluesky aber ein sehr viel besserer Ort als X im Jahr 2025. Der _#eXit_ war die richtige Entscheidung. Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Der Himmel könnte noch blauer sein https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F11%2F16%2Fder-himmel-koennte-noch-blauer-sein%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Der Himmel könnte noch blauer sein&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F11%2F16%2Fder-himmel-koennte-noch-blauer-sein%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
November 17, 2025 at 12:20 AM
Warum feiern wir am 26. Oktober Nationalfeiertag?
_"Weil da 1955 die letzten (russischen) Besatzungssoldaten Österreich verlassen haben"_ , haben viele von uns in der Schule gelernt. Das ist aber falsch. Tatsächlich wurde am 26. Oktober 1955 im Nationalrat die _"immerwährende Neutralität"_ Österreichs beschlossen. Zehn Jahre später wurde dieser Tag dann zum Nationalfeiertag erklärt (die ersten zwei Jahre übrigens noch ohne arbeitsfrei zu sein). Das war damals nicht ganz unumstritten und ist auch recht ungewöhnlich. Normalerweise wird mit einem Nationalfeiertag ja die Unabhängigkeit eines Staates gefeiert - dementsprechend wurden auch lange der 12. November (Ausrufung der Republik 1918), der 27. April (Unabhängigkeitserklärung 1945) und der 15. Mai (Staatsvertrag 1955) als Feiertage diskutiert. Letztlich wurde es aber doch der 26. Oktober, der bis dahin in den Schulen als _"Tag der Fahne"_ begangen worden war. Der Beschluss des Neutralitätsgesetzes sollte als _„erste feierliche Äußerung des Unabhängigkeitswillens der Republik Österreich nach Wiedererlangung ihrer vollen Souveränität“_ gefeiert werden. Die Bezeichnung _„Nationalfeiertag“_ wurde aber noch diskutiert. Die FPÖ hätte einen _„Staatsfeiertag“_ (wie am 1. Mai) bevorzugt, sie bestritt damals noch ausdrücklich die Existenz einer eigenständigen _„österreichischen Nation“_ , setzte sich aber nicht durch. 1955 hatte die FPÖ-Vorgängerpartei VdU gegen das Neutralitätsgesetz gestimmt. Die Unterstützung durch ÖVP, SPÖ und KPÖ reichte aber problemlos für die - bei einem Verfassungsgesetz - nötige Zweidrittel-Mehrheit. Als _„Gesamtänderung“_ der Bundesverfassung wurde die Neutralität nicht gesehen, eine Volksabstimmung war deshalb nicht nötig. Man kann es kaum glauben, aber von der historischen Abstimmung im Nationalrat, die wir nun jedes Jahr feiern, existiert kein einziges Bild - weder aus einer Wochenschau, noch ein einziges Foto. Formal in Kraft getreten ist die Neutralität dann am 5. November 1955, einen Tag nach ihrer Kundmachung im Bundesgesetzblatt. Aber was hat es nun mit den _"letzten Besatzungssoldaten"_ auf sich? Es gibt da tatsächlich einen Zusammenhang mit der Neutralität. Die hat Österreich nicht wirklich _"aus freien Stücken"_ beschlossen, wie es im Gesetzestext heißt. Sie war sogar die wichtigste Bedingung für die Zustimmung der Sowjetunion zum Staatsvertrag. Damit es aber doch freiwillig aussah - was der österreichischen Regierung ein großes Anliegen war -, wurde die Neutralität im Staatsvertrag mit keinem Wort erwähnt. Und sie sollte auch erst beschlossen werden, nachdem die Besatzungsmächte Österreich endgültig verlassen hatten. Die vereinbarte Frist von neunzig Tagen für ihren Truppenabzug begann mit dem Tag, an dem der Staatsvertrag in Kraft trat, also am 27. Juli 1955, als die letzte Ratifikationsurkunde hinterlegt wurde (die vier Besatzungsmächte mussten den Staatsvertrag erst in ihren jeweiligen Parlamenten genehmigen). Am 25. Oktober waren diese neunzig Tage vorbei. Für den Tag danach wurde der Nationalrat einberufen, um das Neutralitätsgesetz zu beschließen - am ersten Tag, an dem Österreich nicht mehr besetzt war. Die sowjetischen Soldaten waren da längst weg, ihr Abzug hatte am 4. August begonnen und war bereits am 19. September abgeschlossen. Die letzten alliierten Truppen in Österreich waren Briten, die am 25. Oktober die Kaserne Klagenfurt-Lendorf an Österreich übergaben. Etwa zwanzig britische Soldaten sollen sich dann allerdings noch einige Tage lang in Kärnten aufgehalten haben. Dass unsere Neutralität laut Gesetzestest _„immerwährend“_ ist, heißt übrigens nicht, dass sie für immer gelten muss. Es bedeutet, dass sich Österreich für permanent neutral erklärt hat und das nicht nur fallweise bei einzelnen Konflikten tut. Aber so wie sie 1955 eingeführt wurde, könnte die Neutralität auch wieder abgeschafft werden - durch ein Verfassungsgesetz, das im Nationalrat mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen wird. Eine Volksabstimmung wäre - wie auch für die Einführung - nicht nötig, da die Neutralität kein sog. _„Baugesetz“_ , also kein Grundprinzip unserer Verfassung ist (wie z.B. das _demokratische_ oder das _bundesstaatliche_ Prinzip). Realpolitisch ist eine Abschaffung der Neutralität ohne Volksabstimmung aber nicht denkbar. Sie ist nach wie vor extrem populär, in jeder Umfrage wird sie von 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Das ist auch der Grund, warum es in Österreich keine ernsthafte politische Debatte darüber gibt - ganz anders als in Schweden und Finnland, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 innerhalb weniger Monate ihre Neutralität bzw. Bündnisfreiheit abgeschafft haben und der Nato beigetreten sind. Und falls sich wer im Screenshot oben den Gesetzestext näher angeschaut hat: Er ist extrem kurz, gerade mal zwei Absätze und drei Sätze lang. Was darin _nicht_ vorkommt: Eine Neutralität _„nach Schweizer Vorbild“_. Wo kommt also diese oft zitierte Formulierung her? Sie stammt - so ähnlich - aus dem _„Moskauer Memorandum“_, das eine österreichische Delegation nach schwierigen Verhandlungen (_„Jetzt noch die Reblaus…“_) im April 1955 in Moskau unterzeichnete. Damals stimmte die Sowjetunion endgültig dem Staatsvertrag zu und Österreich verpflichtete sich, _„immerwährend eine Neutralität zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“_. Im Gesetzestext ein halbes Jahr später fehlt diese Formulierung jedoch. Und in der Praxis hat Österreich seine Neutralität ganz schnell anders gehandhabt: Schon am 14. Dezember 1955, keine zwei Monate nach dem Beschluss der Neutralität, sind wir der UNO beigetreten. Die Schweiz hielt das damals für unvereinbar mit ihrer Neutralität. Erst 2002 - fast ein halbes Jahrhundert nach Österreich - ist auch die Schweiz UNO-Mitglied geworden. Das alles - und sehr viel mehr - bespreche ich mit Peter Filzmaier in einer neuen Episode von _„Der Professor und der Wolf“_ zum Thema _„70 Jahre Neutralität - und wie sich die Welt seither verändert hat“_. Hier zu sehen - und zu hören überall, wo es Podcasts gibt. Für alle, die das Thema noch genauer interessiert: Einen aktuellen, sehr lesenswerten Sammelband österreichischer Wissenschafter·innen zur österreichischen Neutralität und allen ihren Aspekten gibts kostenlos online - mehr darüber hier. Und der Völkerrechtler Ralph Janik und der Ex-Diplomat Franz Cede haben zu ihrem neuen Buch „Auslaufmodell Neutralität?“ hier ein interessantes längeres Interview gegeben. * * * _Der ursprüngliche Text wurde überarbeitet und zuletzt am 27.10.2025 aktualisiert._ Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Warum feiern wir am 26. Oktober Nationalfeiertag? https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F10%2F25%2Fwarum-ist-am-26-oktober-nationalfeiertag%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Warum feiern wir am 26. Oktober Nationalfeiertag?&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F10%2F25%2Fwarum-ist-am-26-oktober-nationalfeiertag%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
October 29, 2025 at 11:52 PM
Anton Pelinka 1941-2025
Wenige Menschen haben mich in meinem Berufsleben so sehr beeinflusst wie Anton Pelinka. Er war der Grund dafür, dass ich doch nicht Lehrer wurde, sondern Politikwissenschaft inskribierte. In seinen Lehrveranstaltungen habe ich erstmals verstanden, was Politik ist, wie sie funktioniert und wie man sie analysiert. Als Reporter und später als Moderator habe ich Pelinka unzählige Male im Radio und im Fernsehen interviewt. Bis zuletzt faszinierte mich seine Fähigkeit, komplexe Fragen für jede·n verständlich und immer interessant zu beantworten, ohne dabei zu simplifizieren. Seine eigene Vergangenheit als – hoch talentierter – Journalist war dafür sicher kein Nachteil. Die Idee, Wissenschaft nur für andere Wissenschafter·innen zu betreiben, war ihm nicht nur fremd, sondern erschien ihm völlig absurd. Jahrzehntelang war Anton Pelinka vermutlich der erste Name, der den allermeisten Menschen in Österreich eingefallen wäre, hätte man sie nach einem Politologen gefragt. Er hat die Disziplin – und über viele Jahre auch die öffentliche Debatte über die Politik im Land – geprägt wie niemand sonst. Anlässlich seines Todes hat mich DIE ZEIT eingeladen, einen Nachruf auf Pelinka zu schreiben. Mit Erlaubnis der Redaktion veröffentliche ich ihn auch hier. * * * #### Niemand hat Österreich besser erklärt Es muss im März 1985 gewesen sein, als ich den Hörsaal an der Innsbrucker Uni betrat. Am „Tag der offenen Tür“ präsentierten sich die Studienrichtungen den angehenden Maturanten und Maturantinnen. Den Professor, den ich mir anhören wollte, kannte ich aus dem Fernsehen. In meinem Elternhaus – der Vater Hausmeister, die Mutter Kassiererin im Supermarkt, beide Mitglieder der kleinen ÖVP-Ortsgruppe Innsbruck Olympisches Dorf – galt er als einer der zwei klügsten Menschen in Österreich, auch wenn beide politisch verdächtig waren. Professor Anton Pelinka und DDr. Günther Nenningmoderierten damals regelmäßig den „Club 2“, eine TV-Gesprächsrunde, die man sich in ihrer Unberechenbarkeit heute kaum mehr vorstellen kann. Der linke „Doktordoktor“ mit den buschigen Augenbrauen und dem schelmischen „gell?“ am Ende jedes zweiten Satzes war eine Art intellektueller Hallodri. Der eloquente Professor war nüchterner, vermutlich auch kein ÖVPler, aber beeindruckend gescheit, immer ruhig und souverän. Vor allem konnte er fantastisch erklären. Was er sagte, klang stets besonders klug und trotzdem war es immer verständlich. Anton Pelinka war in den 1980er und 90er Jahren DER Politologe im Land. Er hat die Politikwissenschaft nicht in Österreich eingeführt, aber praktisch im Alleingang populär gemacht. Er war so bekannt wie heute Peter Filzmaier, nur dass neben Filzmaier auch andere Politologinnen und Politologen regelmäßig in Medien erscheinen. Anton Pelinka war ein Solitär. **ERKLÄRER** Jahrzehntelang war er Österreichs führender Public Intellectual, der den Österreichern ihr Land und seine Politik erklärte. Nicht nur in Radio, Fernsehen und Zeitungsinterviews oder im Hörsaal, auch in Diskussionsrunden in Wirtshäusern und Mehrzweckhallen, zu denen er nach langen Uni-Tagen mit der Bahn nach Landeck oder Liezen fuhr – meist ohne Honorar. Diesen berühmten Mann wollte ich am Tag der offenen Tür der Uni Innsbruck also in echt sehen. „Grundzüge der Politikwissenschaft“ hieß seine Vorlesung. Das 134-seitige Skriptum aus dem Matrixdrucker mit grünem Deckblatt besitze ich bis heute. Die Lehrveranstaltung war so interessant und der Vortragende so beeindruckend, dass diese 90 Minuten mein Leben veränderten. Noch im Hörsaal entschied ich mich, im Herbst nicht Wirtschaftspädagogik zu inskribieren, wie ich es seit Jahren vorhatte, sondern Politikwissenschaft. Und danach würde ich nicht Buchhaltung an einer Handelsakademie unterrichten - sondern Anton Pelinkas Nachfolger werden. Das sollte sich gut ausgehen: Pelinka war Mitte vierzig. Ich würde den Magister machen und bei ihm promovieren. Als sein Assistent würde ich mich habilitieren und irgendwann seinen Lehrstuhl übernehmen - und den „Club 2“, die Interviews und das Renommee. Ich hatte einen Plan. **LEHRER** Im Herbst 1985 begann mein Studium am „Pelinka-Institut“. Das hieß so, weil es Pelinka zehn Jahre zuvor gegründet hatte. Mit 33 Jahren wurde er nach seiner Habilitation in Salzburg und nach zwei Jahren in Essen und Berlin auf den ersten Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Uni Innsbruck berufen. Aber es sollte noch zehn Jahre dauern, bis Politik in Innsbruck eine vollwertige Studienrichtung war und nicht nur ein Nebenfach. Wir waren der erste reguläre Jahrgang: etwa 70 Studierende, jeder kannte jeden am Institut und alle bewunderten den Professor. Als Uni-Lehrer war er brillant: Die Vorlesungen klar strukturiert, jeder Satz druckreif und die letzte Viertelstunde für eine offene Diskussion über aktuelle Politik reserviert. Man hätte dafür auch Eintritt bezahlt. Pelinka selbst war promovierter Jurist. Politikwissenschaft hatte er erst danach am Wiener Institut für Höhere Studien gelernt. Der berühmte Sozialforscher Paul Lazarsfeld hatte dort einen eigenen Lehrgang initiiert, um die in den USA längst etablierte Disziplin nach Österreich zu bringen. Pelinka gehörte zu den ersten Absolventen. **QUIZ-KÖNIG** Aufgewachsen war er als Sohn einer katholisch-konservativen Familie mit tschechischen und deutschen Wurzeln in Wien. Sein erstes politisches Engagement als „Helfer der Volkspartei“ beschrieb er in seiner Autobiografie „Nach der Windstille“ (2009) so: „Plakate der anderen Parteien wurden beschmiert, beschriftet, mit Symbolen der Volkspartei versehen.“ Das war im Nationalratswahlkampf 1949, Wahlhelfer Toni war acht. Toni besuchte katholische Schulen und war Ministrant. Als Student wurde er für einige Wochen im ganzen Land bekannt: Mehrmals hintereinander gewann er als Kandidat das „Quiz 21“, eine extrem populäre Fernsehshow. Da Live-Sendungen damals nicht aufgezeichnet wurden, existiert von der Siegesserie leider keine Sekunde im ORF-Archiv. 1966 wurde der frisch graduierte Politologe Journalist. In der katholischen Wochenzeitung „Die Furche“ übernahm der 25-Jährige den Schreibtisch des Historikers Friedrich Heer. Doch der liberale „linkskatholische“ Kurs von Chefredakteur Kurt Skalnik prallte rasch auf den Widerstand der katholischen Nomenklatura. Skalnik wurde gefeuert, Pelinka kündigte. **ANTIFASCHIST** Zuvor hatte er in einem Kommentar die Verhaftung des rechtsextremen Aktivisten Norbert Burger gefordert. Burger ließ die „Furche“ beschlagnahmen und klagte Pelinka. Ohne Erfolg. Schon damals zeigte sich das wichtigste Motiv im politischen Weltbild des Politologen: die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Antisemitismus und den Feinden der Demokratie. „Die zentrale Erfahrung in meiner politischen Bewusstwerdung war das Begreifen des Holocaust“, schrieb er später. Von seiner katholisch-konservativen Herkunft hatte er sich als Mittelschüler emanzipiert und war an der Uni zum „parteilosen Linken“ geworden. Mit Kreiskys Reformen sympathisierte er und engagierte sich, ohne je Parteimitglied zu werden, in SPÖ-Arbeitskreisen – bis zur Wiesenthal-Affäre, in der er den Kanzler scharf kritisierte. Die Weigerung, 1979 einen Wahlaufruf von Professoren für die SPÖ zu unterschreiben, und die folgenden Repressionen im Uni-Betrieb führten zum Bruch mit der Partei. Nach der Kündigung bei der „Furche“ hatte Pelinka Angebote des ORF und der SPÖ- „Arbeiterzeitung“ abgelehnt und war vom Journalismus zurück in die Wissenschaft gewechselt. Nebenbei schrieb er noch für ein aufsässiges Monatsblatt des Kirchen-Rebellen Adolf Holl und für Günther Nennings„Neues Forum“. Als Politologe wurde sein zentrales Thema neben dem politischen System Österreichs, über das er zahllose Bücher und Aufsätze verfasste, die Theorie der Demokratie. 1974 erschien sein Schlüsselwerk „Dynamische Demokratie“, mehr als 30 weitere Bücher folgten. **CITOYEN** Pelinkas Produktivität und Disziplin als Autor waren in Uni-Kreisen legendär. Trotz der Menge an Texten versäumte er keine Abgabefrist. Rätselhaft bleibt, wie der Politik-Analytiker noch Zeit fand, praktisch Politik zu machen, als Institutsvorstand, in Gremiensitzungen, als Dekan – und in zivilgesellschaftlichen Initiativen. Er gehörte zu den Gründern der Gesellschaft für Politikwissenschaft, der Gesellschaft für Politische Aufklärung, des Instituts für Konfliktforschung, des Peter-Ustinov-Instituts für Vorurteilsforschung und des Wiesenthal-Instituts für Holocaust-Studien. Er vertrat Österreich in der EU-Kommission gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und engagierte sich im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands ebenso wie als Präsident der Tiroler Aids-Hilfe. Sein ganzes berufliches Leben lang war Anton Pelinka Aufklärer, Volksbildner und Citoyen. Die Politikwissenschaft hatte für ihn „auch den Charakter einer Oppositionswissenschaft. Sie darf den Mächtigen nicht angenehm sein.“ Ihre wichtigste Aufgabe sei es jedoch, Politik zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren. **AUFKLÄRER** Regelmäßig tat er das in Interviews für in- und ausländische Medien, oft mehrmals die Woche. Zwei dieser Gespräche führten rund um die Nationalratswahl 1999 in eine persönliche Krise. In der RAI und auf CNN hatte der Politologe dem freiheitlichen Parteichef Jörg Haider eine Nähe zum Nationalsozialismus attestiert. Haider klagte, Pelinka wurde verurteilt. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit, aber auch der zeitliche und finanzielle Aufwand frustrierten ihn tief. Ein Lichtblick war ein offener Brief an den Bundespräsidenten, unterzeichnet von mehr als 150 Uni-Professoren aus aller Welt, die sich mit Pelinka solidarisierten. Die internationale Unterstützung dokumentierte das Prestige, das er sich auch als Gastprofessor in den USA (New Orleans, Harvard, Stanford, Ann Arbor), in New Delhi, Brüssel und Jerusalem erworben hatte. 2001 wurde er in letzter Instanz freigesprochen, doch im ORF nahm der damalige TV-Chefredakteur die Prozesse zum Anlass, den bisherigen Dauer-Gast für Interviews zur Innenpolitik de facto zu „sperren“: Wer mit Haider vor Gericht stehe, könne schwerlich die FPÖ objektiv analysieren. Es war ein sichtbarer Bruch in Pelinkas jahrzehntelanger Bildschirm-Präsenz. An seiner Stelle wurde immer häufiger Peter Filzmaier eingeladen, der an Pelinkas Institut politische Bildung lehrte. **ABSCHIED** Mein Plan für die Nachfolge Pelinkas war derweil gescheitert. Ich hatte zu lange studiert. Zwölf Semester wären die Mindestzeit bis zum Doktorat gewesen. Ich brauchte - neben meinem Beruf als Journalist – mehr als dreimal so lang. 20 Jahre nach der „Grundzüge“-Vorlesung wurde ich 2005 promoviert. Die Urkunde überreichte mir Anton Pelinka, damals Dekan. Ein Zufall, aber ein schöner. Im Jahr darauf verließ der Professor für viele überraschend „sein“ Innsbrucker Institut: „Ich hatte lange genug Jüngerendie eine oder andere Sicht verstellt.“ Nach 31 Jahren wollte er „noch einmal etwas Neues wagen“ und akzeptierte ein Angebot der Central European University in Budapest. Auch dort blieb er unermüdlich produktiv. Sein letztes großes Buch „Faschismus? Zur Beliebigkeit eines politischen Begriffs“ erschien 2022. Im selben Jahr wurde die Krebserkrankung diagnostiziert, an der Anton Pelinka nun 83-jährig nach schweren letzten Wochen gestorben ist. Er hinterlässt seine Ehefrau Marta Pelinka-Marková, eine Tochter und ein herausragendes Lebenswerk. Niemand hat Österreich besser erklärt. Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Anton Pelinka 1941-2025 https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F10%2F04%2Fanton-pelinka-1941-2025%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Anton Pelinka 1941-2025&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F10%2F04%2Fanton-pelinka-1941-2025%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
October 9, 2025 at 11:39 PM
Pingpong, Pool & Politik
Die Idee kam Peter Rabl im Sommer 1981. Der spätere PROFIL- und KURIER-Chefredakteur leitete damals das ORF-Wochenmagazin „Politik am Freitag“ und ahnte vor seiner Sendung ein bedrohliches innenpolitisches Sommerloch. Also beschloss er, drei Ausgaben im August mit ausführlichen Interviews zu füllen - mit den Chefs der drei Parlamentsparteien. Weil es ja Hochsommer war, ganz entspannt im Freien, in ihrem privaten Umfeld. Die ORF-Sommergespräche waren geboren - und die Premiere ist bis heute legendär. Das erste Gespräch mit dem Chef der kleinsten Partei, mit Norbert Steger von der FPÖ, fand in dessen Ferienhaus in Kärnten statt. Es war brüllend heiß und im Vorfeld wurde dem ORF-Team empfohlen, doch Badesachen mitzubringen. Es gäbe einen Pool, in dem man sich nach getaner Arbeit erfrischen könnte. Aber noch während des Interviews hatte Rabl - so erzählt er es 44 Jahre später - spontan die Idee, das Gespräch doch im Pool zu Ende zu führen. Norbert Steger stieg darauf ein und in seine Badehose, hechtete vor laufenden Kameras ins Becken und beantwortete dem Interviewer im Wasser stehend noch ein paar Fragen. Stegers Pressesprecherin, später eine bekannte ORF-Journalistin, saß im Bikini am Beckenrand, Kamera- und Tonmann arbeiteten oben ohne. caption id="attachment_48036" align="aligncenter" width="474"] Screenshot/caption] Niemand kann sich mehr an die letzten Fragen und Antworten dieses Sommergesprächs erinnern - aber die Bilder haben Fernsehgeschichte gemacht und wurden in den Jahrzehnten seither nur ein einziges Mal (fast) übertroffen. Eine Woche später … Den ÖVP-Obmann besuchte Peter Rabl in seinem Vorarlberger Urlaubsort. Dort stieg Alois Mock für das ORF-Team nicht in den Pool, aber aufs Rennrad. In kurzen Hosen und langen Stutzen radelte er den Kameras entgegen, um dann mit Rabl - während des Interviews - Pingpong zu spielen (siehe oben). Tischtennis kann man es ehrlicherweise nicht nennen. caption id="attachment_48037" align="aligncenter" width="474"] Screenshot/caption] Gast im dritten Sommergespräch war der SPÖ-Vorsitzende und Langzeit-Regierungschef Bruno Kreisky, an sich als „Journalisten-Kanzler“ legendär. Doch Kreisky verweigerte sich allzu privaten Inszenierungen, das gesamte Interview wurde seriös am Tisch geführt, aber immerhin im Garten der berühmten „Kreisky-Villa“ in Wien Döbling, also am privaten Wohnsitz des Kanzlers. caption id="attachment_48038" align="aligncenter" width="474"] Screenshot[/caption] Nachsehen kann man all dies in einer sehr schönen [Dokumentation, die Julia Ortner über „40 Jahre Sommergespräche“ gestaltet hat. Und warum fast alles, was da aus den frühen Jahren zu sehen ist, heute undenkbar wäre - darüber spreche ich mit dem Politologen Peter Filzmaier in der neuesten Episode unseres Podcasts [„Der Professor und der Wolf“ mit dem Thema politische Kommunikation. Zu wenig Zeit war im Podcast leider für ein wenig Statistik. Die meisten Sommergespräche hat nicht ihr Erfinder Peter Rabl geführt, sondern sein „Politik am Freitag“-Kollege [Johannes Fischer. 19 Mal befragte Fischer im Sommer die Parteichefs, darunter 1988 auch Jörg Haider auf einer Kärtner Alm. Aus diesem Interview stammt das bis heute berühmteste Sommergespräche-Zitat:_„Sie wissen so gut wie ich, dass die österreichische Nation eine Missgeburt, eine ideologische Missgeburt gewesen ist.“_ 16 Sommergespräche hat der ehemalige Info-Direktor Rudolf Nagiller geführt (unten mit Fred Sinowatz) und 15 die damalige ZiB2-Moderatorin Ingrid Thurnher. Peter Rabl, der Erfinder der Reihe, ist nicht unter den Top 3 - auch weil in den ersten Jahren die Sommergespräche mit den SPÖ-Vorsitzenden nicht er geführt hat. Die Kanzlerpartei hatte sich ORF-Intendant Franz Kreuzer vorbehalten, was heute undenkbar wäre, erst recht, da Kreuzer - ein hervorragender Journalist - vor seiner ORF-Zeit Chefredakteur der AZ war, des SPÖ-Parteiorgans. Aus heutiger Sicht ist auch bemerkenswert, dass Bruno Kreisky - der kritische Interviews in seinen späten Kanzler-Jahren nicht mehr sonderlich schätzte - sich bereits im zweiten Jahr vertreten ließ, vom geschäftsführenden SPÖ-Chef Karl Blecha. 1983 saß dann Fred Sinowatz in seinem Garten im burgenländischen Neufeld, obwohl er damals noch gar nicht Parteivorsitzender war. [caption id="attachment_48041" align="aligncenter" width="474"] Screenshot[/caption] Niemand war jedoch häufiger zu Gast in den Sommergesprächen als Jörg Haider: 13 Mal als Langzeit-Obmann der FPÖ und 2005 als Chef des neugründeten BZÖ (damals durfte ich auf der anderen Seite des Tisches sitzen. Warum das eher kein Vergnügen ist, erzähle ich im Podcast.) Zwölf Mal war Haider-Nachfolger Heinz-Christian Strache zu Gast, elf Mal Alexander Van der Bellen als Bundessprecher der Grünen und je zehn Mal Franz Vranitzky und Wolfgang Schüssel. Quoten-Sieger ist jedoch ein anderer: Die [meistgesehenen Sommergespräche seit 1981 waren die Interviews mit Sebastian Kurz vor der Nationalratswahl 2017 (er hatte kurz zuvor die ÖVP übernommen) und 2019 (Kurz war nach der Ibiza-Affäre als Kanzler abgewählt worden). Beide Gespräche hatten mehr als eine Million Zuseher·innen. Ein weiteres Interview wurde ähnlich viel gesehen: Mit Heinz-Christian Strache 2015, als die Flüchtlingskrise begann. Sonst zeigt sich in der Statistik: Quote bringen FPÖ-Chefs (weil sie maximal polarisieren) und neue Parteivorsitzende in Wahljahren (Kurz, Kern, Rendi-Wagner, Hofer). Die meistgesehenen Sommergespräche fanden übrigens alle in den letzten zehn Jahren statt, was auf den ersten Blick überraschend ist, da es heute ja viel mehr mediale Konkurrenz gibt als vor 30 oder 40 Jahren. Die Erklärung: Seit 2012 wird die Interview-Serie immer montags um 21h05 direkt nach den „Liebensg‘schichten und Heiratssachen“ ausgestrahlt, einer der meistgesehenen ORF-Sendungen überhaupt. Bei den Sommergesprächen vereint sich dann das Publikum der Kuppel-Serie mit den Politik-Interessierten. (Zwischen 21h00 und 22h00 ist auch die Tageszeit, zu der grundsätzlich am meisten ferngesehen wird.) Meistens werden die Gespräche _„quasi-live“_ bzw. _„live to tape“_ aufgenommen. Die Aufzeichnung beginnt kurz vor dem Sendetermin - wenn im Freien gefilmt wird, meist rund um den Sonnenuntergang, um die schönste Lichtstimmung zu erwischen. Um 21h00 wäre es im August schon zu finster. Aber es wird kein Satz geschnitten oder gekürzt, die Interviews sind kurz darauf 1:1 zu sehen. Und seit 2014 werden die Sommergespräche auch gleich anschließend in der ZiB2 live analysiert - praktisch immer von Peter Filzmaier und meist mit einer führenden Innnenpolitik-Journalistin einer Zeitung. Das wird auch dieses Jahr so sein. Ab 11. August erwarten wir Sie im ZiB2-Studio gemeinsam mit Christina Traar von der Kleinen Zeitung zur Analyse des [ersten Sommergesprächs 2025 mit Klaus Webhofer als Interviewer und Leonore Gewessler von den Grünen als Gast. Es wird keinen Pool geben, kein Pingpong, aber viel Politik. Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Pingpong, Pool & Politik https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F08%2F07%2Fpingpong-pool-politik%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Pingpong, Pool & Politik&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F08%2F07%2Fpingpong-pool-politik%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
August 18, 2025 at 10:58 PM
X ist ein rechtsfreier Raum
**Warum es praktisch unmöglich ist, anonyme Hass-Postings auf X zu bekämpfen: Die Gesetze sind zu schwach, X ignoriert sie, zuständige Behörden verweigern die Arbeit. Ein Erfahrungsbericht in zehn Schritten.** * * * Stellen wir uns vor, eine Tageszeitung würde täglich mehrere Leserbriefe veröffentlichen, in denen etwa unter einem Bild der Regierungsspitze steht: _„Diese widerlich stinkenden Schweine ... ÖSTERREICH wird von korrupten, kriminellen und saudummen ARSCHLÖCHER:INNEN reGIERt!“_ Und unter einem Meuchelfoto der Sozialministerin: _„Im abstauben und veruntreuen von Steuergeld ist die fette rote linksversiffte NAZI-Schlampe wie man sieht, bestens ausgebildet!“_ Neben einem Artikel über den Innenminister: _„NÖ-VOLLTROTTEL? Der Kasperl ist ein korrupter, krimineller und verlogener Schwurbler.“_ Über einem Foto des früheren deutschen Gesundheitsministers: _„Du widerwärtiger korrupter und verlogener MASSENMÖRDER solltest besser dein linksversifftes LÜGENmaul halten. Auf DICH bösartige Kreatur wartet NÜRNBERG 2.0 und viele Jahre KÄFIG!“_ Und zur "Karikatur" einer prominenten FDP-Politikerin: * * * * * * Alle Kommentare sind mit einem männlichen Vor- und einem österreichisch klingenden Nachnamen unterschrieben, der allerdings im Melderegister nicht existiert. Den Parteichef der SPÖ tituliert der anonyme Schreiber grundsätzlich nur als _„Zecke“_ , den ukrainischen Präsidenten ausschließlich als _„Ratte“_ und wer dafür eintritt, die Ukraine zu unterstützen, liest als Reaktion: _„Du dreckige geisteskranke kriegsgeile korrupte Witzfigur - hast du feiger Maulheld dich schon zum Dienst gemeldet, oder sitzt du Würschtl schon im Bunker verkrochen, wie dein Vorbild anno April 1945?“_ Wer FPÖ oder AfD kritisiert, ist ein... _„Hirngewaschenes linksversifftes NAZI-Pack. Woker ABSCHAUM!“_ Und auch ich wurde schon mit Kommentaren beehrt: _„Beim ORFloch ArmHirn gibt es nur zwei Möglichkeiten - entweder ist er ein KORRUPTER LÜGNER, wenn er das bestreitet, dann ist er ein AHNUNGSLOSER VOLLIDIOT! Das lässt sich lückenlos beweisen!“_ _„Ach der ArmHirn - der ist eine widerliche ungebildete linksradikale verlogene bösartige DreckSau - ein armseliges ORFloch aus dem Bilderbuch. Wenn wir diese miese Kreatur nicht mit unseren Zwangsgebühren durchfüttern würden, könntest den Pfosten unter der Reichsbrücke besuchen!“_ _„Ich kann euch gar nicht sagen, wie ich dieses verlogene, dumme, zwergenwüchsige ORFloch verachte. Eigentlich ist der intellektuell obdachlose Wurschtl ja zu bedauern – er war schon in der Schule ein OPFER!“_ Würde das alles in einer Tageszeitung stehen, bekäme die Redaktion einen Brief von meinem Anwalt und ich sehr rasch eine große Entschuldigung im Blatt und eine ziemliche Menge Geld. Würden die Kommentare in ihrem Online-Forum erscheinen, würde die Zeitung mir die Zugangsdaten des Users mitteilen und ich würde ihn klagen. Er würde nach § 111 StGB (Üble Nachrede) und nach § 115 (Beleidigung) verurteilt, müsste die Prozesskosten, meinen Anwalt und eine Entschädigung zahlen _–_ und wäre vorbestraft. Deshalb finden wir in keiner Zeitung solche Leserbriefe. Aber ich habe diese Kommentare nicht erfunden. Sie stehen alle online – auf _einem_ X/Twitter-Account, neben zigtausenden anderen Postings in exakt derselben Tonart. Der Mann (?), der diesen Account unter einem erfundenen Namen betreibt, setzt täglich (!) weit über hundert Postings ab und praktisch jedes davon ist strafbar. Der Autor ist ganz offensichtlich ein Soziopath und hat extrem viel Tagesfreizeit. Ich bin auf ihn vergangenen Sommer in meinen _Mentions_ auf X gestoßen, als er ein Posting über mich kommentierte. Ich meldete seinen Kommentar bei X – die Reaktion der Plattform erhielt ich am nächsten Tag: * * * * * * Dass in dem – offensichtlich klagsfähigen – Inhalt, den ich gemeldet hatte, _"keine Verstöße gegen die X-Regeln vorliegen"_ , fand ich bemerkenswert, denn in den _X-Regeln_ steht unter anderem: _„Damit ein sinnvoller Dialog auf der Plattform möglich ist, ... verbieten wir Verhaltensweisen und Inhalte, die andere belästigen, beschämen oder demütigen sollen.“_ Oder auch nicht. **Dann eben auf zu Gericht.** Erstaunlicherweise finde ich es nämlich nicht sonderlich lustig, wenn mich wer in aller Öffentlichkeit als _„korrupten Lügner“_ und _„verlogene Drecksau“_ verleumdet. Ab hier wird die Geschichte bizarr. Entgegen aller Beteuerungen von Politiker·innen, wie wichtig es doch wäre, _„Hass im Netz“_ zu bekämpfen, und trotz eigener neuer EU-Gesetze, bleibt der Rechtsweg nämlich de facto chancenlos. Auf eine Art, die Kafka gefallen hätte. Unmittelbar klagen kann man X für die Verbreitung strafbarer Kommentare nicht. Im Unterschied zu einer Zeitung unterliegen Social-Media-Anbieter wie X, Meta oder TikTok als _Host Provider_ juristisch einem sogenannten _Plattform-Privileg_. Anders als traditionelle Medien sind sie nicht unmittelbar für alles verantwortlich, was sie veröffentlichen. Begründet wird dieses Privileg mit der schieren Menge von Milliarden Postings. Der Wiener Medienjurist Nikolaus Forgó erklärt das gerne mit einem Vergleich: Auch der Betreiber eines Flohmarkts ist nicht unmittelbar dafür verantwortlich, wenn dort etwas Verbotenes verkauft wird – anders als der Betreiber eines Geschäfts. Da würde ich als juristischer Laie ja meinen, wenn wer auf einem Flohmarkt einen Waffenstand aufbaut und ausschließlich Pistolen und Pumpguns verklopft, sollte man ev. auch den Flohmarkt-Betreiber belangen, der für den Stand die Miete kassiert ... aber bleiben wir im Internet. Die Plattformen haften also nicht für alle Postings – doch wenn sie auf einen offensichtlich rechtswidrigen Kommentar hingewiesen werden, müssen sie ihn löschen. Falls nicht, werden sie haftbar. Da X das _„verlogene ORFloch“_ trotz eines ausdrücklichen Hinweises nicht löschen will, könnte ich X also klagen. Dummerweise ist das aber ziemlich kompliziert – und richtig teuer. Im Februar letzten Jahres trat nämlich der europäische _Digital Services Act_ (DSA) in Kraft. Seither hat X in Österreich keine Ansprechstelle mehr, sondern nur noch eine Adresse für die gesamte EU: in Irland. Bis zum DSA galt ein österreichisches Gesetz, das zumindest eine nationale Kontaktadresse vorschrieb. Das hätte mir zuletzt allerdings auch nicht sehr geholfen, denn vor drei Jahren hat X seine – gesetzlich vorgeschriebene – Zusammenarbeit mit der zuständigen österreichischen Behörde RTR einfach beendet: _„Twitter hat 2022 sämtliche Kommunikation mit der Beschwerdestelle eingestellt“_ , steht im Jahresbericht der Behörde zu lesen. Jetzt könnte ich also die X/Twitter-Zentrale in Irland zivilrechtlich klagen. Das Problem: Ich müsste eine sogenannte _Schriftsatzklage_ nach Irland zustellen lassen und alle nötigen Unterlagen muss erst ein gerichtlich bestellter Dolmetscher übersetzen, damit X – ausgestattet mit einer Rechtsabteilung in Kompaniestärke – die Zustellung nicht verweigern kann. Die Kosten dafür, für die Gerichtsgebühr und für den Rechtsanwalt trägt mal vorerst der Kläger, in diesem Fall also ich. Erfolgsaussichten: Ungewiss. Kostenrisiko: Hoch. Mein Anwalt Philipp Längle hatte eine andere Idee: Wir zeigen den unbekannten Verfasser der Kommentare an und zwingen X über ein österreichisches Gericht dazu, die User-Daten des anonymen Aggro-Posters herauszugeben. Denn er hat ja die strafbaren Kommentare geschrieben und soweit man aus seinem Account erkennt, dürfte er Österreicher sein und damit auch hierzulande relativ unkompliziert klagbar. Ich war mir nicht ganz sicher. Zum einen will ich derartigen Soziopathen grundsätzlich nicht allzu viel Lebenszeit widmen. Und zum anderen war klar, dass das nicht billig wird. Jedenfalls solange der Poster nicht rechtskräftig verurteilt ist und sämtliche Verfahrenskosten bezahlen muss. Doch Philipp Längle ist nicht nur ein exzellenter Anwalt, sondern auch ein politisch wacher, hoch interessierter und engagierter Bürger – und er bot mir an, das Verfahren auf Kosten seiner Kanzlei durchzuspielen. Es war ihm ein Anliegen, mal grundsätzlich herauszufinden, wie sich Hass-Postings auf X bekämpfen lassen. Das fand ich großartig. **Schritt 1:** Die Kanzlei Längle-Fussenegger-Singer in Dorbirn stellt im September 2024 eine Strafanzeige gegen den unbekannten Inhaber des X-Accounts und bringt bei Gericht einen Antrag auf die Ausforschung der User-Daten ein. **Schritt 2:** Am 11. Oktober 2024 schickt das Straflandesgericht Wien eine _„Anordnung einer Auskunft über Stamm- und Zugangsdaten“_ an die _Twitter International Unlimited Company_ in Dublin. **Schritt 3:** Sechs Wochen später antwortet der Konzern per Standardmail _: „Ihre Anfrage wird bearbeitet und so rasch wie möglich beantwortet.“_ Eine Woche später dann die tatsächliche Antwort: _Beschweren Sie sich bitte beim Salzamt!_ Oder wie es die irische X-Zentrale offiziell formuliert: _„Ihr Ersuchen muss im Rahmen eines bilateralen Rechtshilfeabkommens über die Gerichte in Irland oder den Vereinigten Staaten gestellt werden.“_ X weigert sich also nicht nur, die eindeutig rechtswidrigen Postings zu löschen, die Firma will auch nicht bekanntgeben, wer sie verfasst hat. **Schritt 4:** Das Straflandesgericht Wien schickt am 3. Dezember 2024 via Justizministerium ein sechsseitiges – und natürlich auch auf Englisch übersetztes – _„Rechtshilfeansuchen in Strafsachen“_ an die _„zuständige Justizbehörde der Republik Irland“._ **Schritt 5:** Sechs Wochen später antwortet das irische Justizministerium: _Hier gibt es nichts zu sehen,_ _gehen Sie weiter!_ In der behördlich korrekten Formulierung klingt das so: _„Leider kann Ihnen diese Behörde nicht in der erforderlichen Weise weiterhelfen. Das angeforderte Beweismaterial besteht aus Daten, die sich nicht in unserer Gerichtsbarkeit befinden. ... Bitte beachten Sie, dass die X International Company von einem Unternehmen mit Sitz in den Vereinigten Staaten betrieben wird. Es wird daher empfohlen, dass Sie sich an das US-Justizministerium wenden, da dieses besser in der Lage ist, Sie zu unterstützen.“_ Aber nicht mit Philipp Längle. **Schritt 6:** Der Anwalt ersucht das Straflandesgericht Wien am 6. Feburar 2025, ein neues Rechtshilfeersuchen nach Irland zu senden. Es sei ja unbestritten, dass X in Irland seinen Europasitz hat und damit unter die irische Rechtssprechung fällt. Wo die User-Daten letztlich gespeichert seien, wäre dafür nicht relevant, denn: _„Wäre die Argumentation der irischen Behörden zutreffend (Anm: woher will die Behörde überhaupt wissen, wo die Daten konkret gespeichert sind?), könnte jegliche behördliche Maßnahme bereits dadurch unterlaufen werden, dass Server in irgendwelchen Schurkenstaaten betrieben werden, mit denen es keinerlei Rechtshilfeabkommen gibt.“_ Klingt überzeugend. **Schritt 7:** Das irische Justizministerium antwortet vier Wochen später: _Uns doch egal. Und tschüss!_ Im offiziellen Antwortschreiben an das Wiener Gericht liest sich das so: _„Wie ausgeführt, kann unsere Dienststelle ein solches Ersuchen nur bearbeiten, wenn sich das angeforderte Material – sei es in digitaler oder physischer Form – physisch in Irland befindet. Da sich die angeforderten Daten physisch nicht innerhalb dieser Gerichtsbarkeit befinden ... bedaure ich, dass unsere Dienststelle nicht in der Lage ist Ihnen in dieser Angelegenheit weiter zu helfen.“_ Hier müssen wir nun kurz ein **Zwischenfazit** ziehen: Die EU hat also 2024 nach jahrelanger Debatte und mit lauten Fanfaren ein europaweites Gesetz in Kraft gesetzt – eben den _Digital Service Act_ –, der sicherstellen soll, dass Social-Media-Plattformen innerhalb der EU rechtlich belangbar sind. Ihnen drohen sogar enorme Strafen von bis zu sechs Prozent ihrer jährlichen Einnahmen, theoretisch Milliardensummen. Jeder Konzern muss laut DSA eine zentrale Kontaktstelle innerhalb der EU benennen. Für fast alle liegt diese Europa-Adresse – aus steuerlichen Gründen – in Irland. Doch die irische X-Zentrale gibt einfach keine User-Daten heraus. Und das irische Justizministerium – das dazu da wäre, EU-Gesetze zu vollziehen – fühlt sich nicht zuständig, weil X seine User-Daten nicht auf irischen Servern speichert. _Pech aber auch!_ Doch Philipp Längle ist ein hartnäckiger Mann. **Schritt 8:** Er lässt tatsächlich in den USA nachfragen, obwohl ihm das Straflandesgericht Wien schon präventiv davon abrät: _„Im Hinblick ... auf die Vereinigten Staaten von Amerika wird Ihnen mitgeteilt, dass gerichtsbekannt ist, dass die US-Behörden vergleichbaren Ersuchen unter Berufung auf die freie Meinungsäußerung nicht nachkommen.“_ Tatsächlich ist das _First Amendment_ der US-Verfassung, das die freie Rede schützt, in den USA eine Art Heiligtum. Selbst Holocaust-Leugnung und offene Verhetzung sind dort nicht strafbar. Anwalt Längle weiß das, deshalb argumentiert er in seinem Antrag anders: Die US-Verfassung gelte in den USA und das _First Amendment_ habe wohl kaum den Zweck, Nicht-Amerikaner im Ausland zu schützen. In Österreich aber sind die Postings, um die es geht, sehr wohl strafbar. Die US-Justiz solle X deshalb anweisen, die User-Daten offenzulegen – außer die Firma kann irgendeinen Hinweis liefern, wonach der Autor der Postings US-Bürger ist oder sich (legal) in den USA aufhält. Am 18. April trifft das Rechtshilfeansuchen aus Wien bei den Justizbehörden in Washington ein. **Schritt 9:** Am 6. Juni meldet sich das amerikanische Justizministerium mit einer Antwort:_Leider nein!_ Aber nicht, weil die Postings laut _First Amendment_ gar nicht strafbar wären, sondern weil die US-Behörden schlicht zu viel Arbeit hätten. Man müsse deshalb vorrangig Rechthilfeansuchen beim Verdacht von _„Terrorismus, Gewaltverbrechen, sexueller Ausbeutung von Kindern, organisierter Kriminalität/Drogenhandel, Korruption und Fälle mit erheblichem finanziellen Schaden“_ bearbeiten. Der Nachweis, dass es sich in meinem Fall um eine _„schwere Straftat“_ handelt, sei nicht erbracht worden. Und an dieser Stelle endet der Rechtsweg. Die Bilanz von Anwalt Philipp Längle nach einem Dreivierteljahr juristischer Bemühungen: _„Der Fall zeigt, dass sich die österreichischen Bestimmungen gegen Hass im Netz als zahnloser Papiertiger erweisen, wenn sich Hater hinter einem anonymen X-Profil verstecken. Der Betreiber dieser Plattform lehnt (im Gegensatz zu anderen)__eine Zusammenarbeit mit österreichischen Strafverfolgungsbehörden rundweg ab, und die irischen Behörden verweigern mit fadenscheinigen Argumenten dem österreichischen Staat die Rechtshilfe. Dass zusätzlich auch die Trump Administration jegliche Kooperation mit den österreichischen Behörden verweigert, verwundert in diesem Zusammenhang bereits weniger.“_ Einen letzten Versuch mache ich noch selbst. **Schritt 10:** Seit letztem Jahr gilt ja der _Digital Service Act_ und jede Plattform muss eine Möglichkeit zu einer DSA-Beschwerde bieten. Alle Postings über mich auf dem X-Account sind nach wie vor online. Also melde ich diese Woche eines über das DSA-Beschwerdeportal von X. * * * * * * Und bekomme einen Tag später die Antwort _,_ dass der gemeldete Inhalt _"im Rahmen der Rechtsgrundlagen (DSA Law) in der EU nicht der Entfernung unterliegt.“_ Ich könnte dagegen nochmal berufen – aber irgendwie ahne ich das Ergebnis und es ist mir zu schade um die Lebenszeit.* **Fazit:** Auf X existiert ein anonymer Account, der jeden Tag Dutzende Menschen aufs Übelste verleumdet, beleidigt und kreditschädigt, der ohne Unterlass rassistischen und sexistischen Müll verbreitet, nahezu jedes einzelne von zigtausenden Postings ist strafbar. Doch selbst als Inhaber des größten österreichischen X-Accounts mit über 600.000 Followern, mit der Hilfe eines extrem engagierten Anwalts und Unterstützung des vorbildlich arbeitenden Wiener Straflandesgerichts ist es mir weder gelungen, die strafbaren Postings über mich löschen zu lassen, die Identität des Posters zu erfahren und schon gar nicht, den gesamten – eindeutig rechtswidrigen – Account sperren zu lassen. Man kann sich vorstellen, wie es einer Alltags-Userin ohne Rechtsbeistand geht, die gegen ein Hass-Posting vorgehen will. Ein Rechtsstaat sollte garantieren, dass Menschen, die in ihren Rechten verletzt werden, sich wehren können und entschädigt werden – und dass es Sanktionen für Menschen und Unternehmen gibt, die Gesetze missachten. Aber X ist ein rechtsfreier Raum. Gesetze gelten hier nicht. Die Rechtslage in Österreich und der EU ist unzureichend, die irischen und amerikanischen Behörden verweigern die Arbeit und X zeigt allen den Mittelfinger. Die _„Redefreiheit“_ eines vermummten rechtsextremen Soziopathen ist Elon Musk wichtiger Es ist mir unbegreiflich, dass noch irgendein anständiger Mensch dieses Medium nützt. * * * * **Nachtrag vom 1. Juli 2025:** Nun habe ich den angebotenen Einspruch zur DSA-Meldung doch noch eingebracht. Da geht relativ flott über das Online-Meldeformular von X. Meine Begründung: Das Posting verletzt mehrere österreichische Rechtsbestimmungen (_Üble Nachrede, Beleidigung, Kreditschädigung_) und ist deshalb zu entfernen. Grundsätzlich wäre aber der gesamte Account zu sperren, da nahezu jedes der tausenden Postings gegen die X-Regeln und diverse Gesetze verstößt. Die Antwort von X kam innerhalb von drei Stunden: _Netter Versuch! Baba und fall ned..._ Aber immerhin: Ich könnte auch dagegen wieder Einspruch einlegen oder die Entscheidung _"durch ein Gerichtsverfahren bei einem zuständigen Gericht anfechten"_. Ich werde darüber nachdenken. * * * * * * PS: Eine missverständliche Formulierung im ursprünglichen Text wurde korrigiert. Ich könnte X – trotz des Firmensitzes in Dublin – auch vor einem österreichischen Gericht zu klagen. Alerdings müsste ich, wie beschrieben, die Klage mit allen Unterlagen für die korrekte Zustellung nach Irland auf meine Kosten übersetzen lassen. Gerichtsgebühr und Anwaltskosten bemessen sich an einem Mindeststreitwert von € 21.000. Dieses Kostenrisiko trägt der private Kläger, während er juristisch gegen Rechtsabteilung und Anwaltskanzlei eines US-Milliardenkonzerns in Irland vorgeht, bis das Verfahren – vermutlich nach mehreren Instanzen und mehreren Jahren – rechtskräftig entschieden ist. Dieses Risiko war mir zu hoch – und ich vermute, so geht es den allermeisten Menschen, die von Hass-Postings betroffen sind. Das kann es aber nicht sein. Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=X ist ein rechtsfreier Raum https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F06%2F28%2Fx-ist-ein-rechtsfreier-raum%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=X ist ein rechtsfreier Raum&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F06%2F28%2Fx-ist-ein-rechtsfreier-raum%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
July 8, 2025 at 10:54 PM
Was ist Journalismus?
Diese Frage hat mir Podcaster Andreas Sator für seine großartige Gesprächsreihe _"Erklär mir die Welt"_ gestellt - und wir haben uns eine Dreiviertelstunde lang über viele verschiedene Aspekte dieses großen Themas unterhalten: * Was unterscheidet Journalismus von anderen Inhalten, die so ähnlich aussehen? * Warum glaube ich, dass ein "Leserreporter" kein Journalist ist und _Wikileaks_ kein Journalismus? * Weshalb darf sich trotzdem jeder Journalist nennen? * Welche Themen kommen in die Medien und warum? * Gibt es Themen, die alle Medien verschweigen? * Weshalb sind Nachrichten oft so negativ? * Was ist "konstruktiver Journalismus" - und warum gibts nicht mehr davon? * Was unterscheidet Boulevard- von Qualitätsmedien? * Warum sind Fake News heute schwerer zu erkennen als früher? * Wie gelingt es trotzdem? * Welchen Informationen kann man vertrauen? Aufgenommen haben wir dieses Gespräch schon vergangenen Herbst - gemeinsam mit einem weiteren zum Thema Interviews. Der Anlass dafür war ein neues Journalismus-Lehrbuch, das ich gemeinsam mit drei fabelhaften Kolleg·innen herausgegeben habe. An einem Detail merkt man, dass unser Gespräch nicht tagesaktuell ist: Andreas fragt mich am Ende nach meinen Medien-Tipps und ich empfehle u.a. die _Washington Post_ , die sehr lange eine fantastische Zeitung (und Website) war. Leider ist ihr Eigentümer, Amazon-Gründer Jeff Bezos, aber seit der Wiederwahl von Donald Trump dabei, dieses legendäre Medium zu ruinieren. Ich würde es heute also nicht mehr groß empfehlen, sondern stattdessen das exzellente Magazin _The Atlantic_. Wie alle _"Erklär mir die Welt"_ -Gespräche gibt es auch dieses nicht nur auf YouTube zu sehen, sondern auch auf allen üblichen Plattformen als Podcast zu hören. Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Was ist Journalismus? https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F03%2F26%2Fwas-ist-journalismus%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Was ist Journalismus?&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F03%2F26%2Fwas-ist-journalismus%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
April 3, 2025 at 8:05 PM
Die Sache mit dem “Auftrag”
ÖVP und SPÖ sind nun offenbar dabei, sich doch noch auf eine gemeinsame Koalition zu einigen. Es wäre erst die zweite Regierung seit 1945, die ohne einen offiziellen Auftrag des Bundespräsidenten zur Regierungsbildung entsteht. Dieser Auftrag ist ja eine interessante Sache. In der Bundesverfassung existiert er nämlich nicht. Dort steht über die Bildung der Regierung nur ein einziger Satz: _„Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt.“_ __ Dass der Präsident den späteren Bundeskanzler oder die Kanzlerin _"mit der Regierungsbildung beauftragt“_ ist nirgendwo vorgesehen, sondern lediglich eine politische Tradition, eine _„Usance“_. In den letzten Wochen sind gleich zwei Politiker an dieser Tradition gescheitert – Karl Nehammer und Herbert Kickl. Aber das ist wirklich selten. Davor ist das in achtzig Jahren Zweiter Republik und nach 24 Nationalratswahlen auch nur zwei Mal passiert. Das erste Mal ist schon sehr lange her – und es ist ein besonders interessanter Fall, weil er zeigt, wie einflussreich der Bundespräsident bei einer Regierungsbildung sein kann. Oder zumindest sein konnte. Der Mann, der keine Regierung zustande brachte, war ÖVP-Bundeskanzler Leopold Figl nach der Nationalratswahl 1953. Erstmals hatte nicht die ÖVP, sondern die SPÖ die meisten Wählerstimmen erzielt. Mit 42,11 Prozent lagen die Sozialisten vor der Volkspartei mit 41,26. Die SPÖ hatte sechs Mandate dazu gewonnen, die ÖVP drei verloren, doch aufgrund der Wahlarithmetik hatte die ÖVP im Nationalrat letztlich doch noch um ein Mandat mehr. **DER MÄCHTIGE PRÄSIDENT** Nun war der Bundespräsident am Wort. Der frühere Wiener Bürgermeister Theodor Körner war noch keine zwei Jahre im Amt und das erste vom Volk gewählte Staatsoberhaupt in der Geschichte Österreichs. (Obwohl die Volkswahl des Bundespräsidenten seit 1929 in der Verfassung steht, wurde sie erst 1951 erstmals durchgeführt.) Und der langjährige SPÖ-Politiker Körner beauftragte ÖVP-Kanzler Figl mit der Bildung einer neuen Regierung – also nicht die stimmenstärkste Partei bei der Wahl, sondern die mandatsstärkste Fraktion im Nationalrat. Gröbere Proteste dagegen gab es nicht. Vor allem in der Wirtschafts- und Budgetpolitik war das Verhältnis zwischen ÖVP und SPÖ zuletzt immer schlechter geworden, deshalb wollte die Volkspartei eine neue Koalitionsvariante probieren und den jungen VdU, den Verband der Unabhängigen, in die Regierung holen. Die deutschnational-liberale Partei, aus der später die FPÖ entstand, verstand sich als politische Vertretung ehemaliger NSDAP-Mitglieder, Heimatvertriebener und heimgekehrter Kriegsgefangener. Bei der Wahl 1953 wurde der VdU mit knapp elf Prozent Dritter, hatte aber – wie die ÖVP – Stimmen und Mandate verloren. Der Plan der ÖVP-Spitze war nun ein gemeinsames Wirtschaftsprogramm mit dem VdU, das die SPÖ dann in einer Dreier-Koalition akzeptieren könnte - oder auch nicht. Die SPÖ-Führung sagte Nein. Mit dem VdU könnte man sich _„nicht an einen Tisch setzen ..., weil es sich hier um Reste und Nachfolger der Nazi handelt“_ , erklärte die parteieigene „Arbeiter-Zeitung“. (Die Gründung des VdU hatte die SPÖ allerdings noch gefördert, um die konservativen Wählerschichten zu spalten.) Daraufhin marschiert ÖVP-Kanzler Figl in die Hofburg – mit einem fertigen Programm für eine Zweier-Koalition aus ÖVP und VdU. Doch Theodor Körner lehnt ihre Angelobung ab: Der VdU sei nicht regierungfähig. In seinem Jahrhundertwerk _Österreich II_ zitiert Hugo Portisch die Begründung des Bundespräsidenten: _„Ich habe erkannt, dass bloße Erklärungen und Versprechungen eines Einzelnen wie einer Partei nicht ausreichen, um sie aus einer negativ kritisierenden über Nacht zu einer positiv staatsbejahenden zu machen. Hierfür müssen vielmehr eindeutige Beweise erst erbracht werden.“_ Leopold Figl, seit der ersten Nationalratswahl von 1945 Kanzler, legt den Auftrag zur Regierungsbildung zurück und auch sein Amt als Regierungschef. Auf Vorschlag der ÖVP wird ihr Klub- und Parteichef Julius Raab als neuer Kanzler angelobt und mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Raab hatte die Annäherung an den VdU viel stärker betrieben als Figl, aber der Bundespräsident erklärt ihm, dass er keine Regierung mit VdU-Beteiligung einsetzen wird. Interessanterweise gibt es darüber keine große politische Debatte – und schon gar keine Staatskrise. Die Autorität des ersten vom Volk gewählten Staatsoberhaupts ist so groß – und seine verfassungsgemäße Kompetenz bei der Regierungsbildung so unbestritten –, dass er letztlich eine neue große Koalition erzwingen kann, gegen den Willen der ÖVP-Führung. Trotz der Komplikationen geht das alles übrigens erstaunlich schnell: Von der Wahl am 22. Februar 1953 bis zur Angelobung der neuen Regierung Raab-Schärf am 2. April vergehen nur 39 Tage. **DER OHNMÄCHTIGE PRÄSIDENT** Fast fünfzig Jahre später sieht es mit der Autorität des Bundespräsidenten völlig anders aus. Bei der Nationalratswahl am 3. Oktober 1999 wird die SPÖ trotz Verlusten wieder zur stärksten Partei, mit mehr als 33 Prozent klar vor FPÖ und ÖVP mit jeweils knapp 27 Prozent. Präsident Thomas Klestil beauftragt SPÖ-Kanzler Viktor Klima mit der Regierungsbildung, aber die Verhandlungen mit der ÖVP scheitern auf den allerletzten Metern: Die SPÖ-Gewerkschafter lehnen die ausverhandelte Pensionsreform ab, die ÖVP fordert plötzlich das Finanzministerium. Viktor Klima legt den Regierungsauftrag zurück, bekommt vom Bundespräsidenten aber einen neuen, wie Gerfried Sperl in seinem Buch _Der Machtwechsel_ beschreibt. Am 21. Jänner 2000 wird der SPÖ-Vorsitzende damit beauftragt, eine Minderheitsregierung zu bilden, die erste seit Kreisky 1970. Aber während Klima Gespräche darüber führt, einigen sich ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel und FPÖ-Chef Jörg Haider – ohne Regierungsauftrag – auf eine gemeinsame Koalition. Obwohl die Freiheitlichen bei der Wahl knapp stärker waren und deutlich zugelegt hatten, überlassen sie der drittplatzierten ÖVP das Kanzleramt, Haider bleibt als Landeshauptmann in Kärnten. Bundespräsident Klestil will diese Koalition ausdrücklich nicht (und versucht sogar Franz Fischler, den EU-Kommissar der ÖVP, zur Bildung einer Regierung zu überreden, was dieser jedoch ablehnt). Doch anders als Körner ein halbes Jahrhundert zuvor kann Klestil sich nicht durchsetzen. Er lehnt zwei freiheitliche Ministerkandidaten ab (Kabas und Prinzhorn) und verlangt die Unterzeichnung einer _„Präambel“_ zum Regierungsprogramm, die eine proeuropäische Politik und die Menschenrechte garantiert. Am 4. Februar gelobt Klestil die schwarz-blaue Regierung – die buchstäblich _gegen_ seinen Auftrag entstanden ist – an und schaut dabei finster. Mehr war ihm nicht geblieben. Viktor Klima, gleich doppelt an der Regierungsbildung gescheitert, tritt wenig später als SPÖ-Vorsitzender ab und verlässt die Politik. **DER GESTRESSTE PRÄSIDENT** Die nächsten zwanzig Jahre funktioniert das mit den neuen Regierungen dann wieder ganz traditionell. Nach den Wahlen 2002, 2006, 2008, 2013, 2017 und 2019 bekommt der jeweilige Vorsitzende der stimmenstärksten Partei (es sind immer Männer) vom Bundespräsidenten (auch lauter Männer) den Regierungsauftrag (der in der Verfassung nicht existiert) und bildet einige Wochen später eine Koalition (Schwarz-Blau, drei Mal Rot-Schwarz, Türkis-Blau, Türkis-Grün), die der Präsident dann angelobt. Einmal allerdings – nach der Ibiza-Affäre im Jahr 2019 – wird erstmals in der Zweiten Republik eine Bundesregierung abgewählt, durch ein Misstrauensvotum im Nationalrat. Bis zur Formierung einer neuen Koalition nach Neuwahlen soll eine Übergangsregierung aus Spitzenbeamt·innen die Geschäfte führen. Bundespräsident Van der Bellen beauftragt die parteilose Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs mit ihrer Zusammenstellung. Brigitte Bierlein wird die erste Bundeskanzlerin in der Geschichte Österreichs und bleibt sechs Monate im Amt. Fünf Jahre später eine weitere Premiere: Zum ersten Mal vergibt der Bundespräsident den Auftrag zur Regierungsbildung nicht an die stärkste Partei im Nationalrat. Das ist nach der Nationalratswahl 2024 die FPÖ, doch alle anderen Parteien schließen vor und nach der Wahl kategorisch aus, mit FPÖ-Chef Kickl eine Koalition zu bilden. Es ist _"der vollkommen unübliche Fall eingetreten, dass es eine stimmenstärkste Partei gibt, mit der allem Anschein nach keine der anderen Parteien zusammenarbeiten will"_ , erklärt der Bundespräsident nach wochenlangen _"Sondierungsgesprächen"_ und beauftragt erstmals in der Zweiten Republik den Vorsitzenden der zweitstärksten Partei im Nationalrat. Doch ÖVP-Chef Karl Nehammer scheitert mit seinen _"Dreiko"_ -Verhandlungen und auch an einer Zweier-Koalition mit der SPÖ. Er legt den Regierungsauftrag zurück, tritt als Kanzler und Parteichef ab und verlässt die Politik. Die ÖVP ist nun – gegen ihr zentrales Wahlversprchen – zu Verhandlungen mit Kickl bereit._"Eine neue Situation"_ , sagt der Bundespräsident und beauftragt nun doch den FPÖ-Vorsitzenden, eine Regierung zu bilden. Doch auch Kickl scheitert und gibt den Auftrag zurück, bleibt aber Parteichef. Es ist eine historisch einmalige Situation. Der Bundespräsident beklagt die mangelnde Kompromissfähigkeit der Parteien, sieht seine eigene Rolle aber völlig anders als einst Theodor Körner: _"Meine Aufgabe ist es darauf zu achten, dass unser Land eine handlungsfähige Regierung bekommt. Wie diese Regierung zusammengesetzt ist, hat für mich grundsätzlich keine Rolle zu spielen, solange sie auf dem Boden der Verfassung zustande kommt. Sich auf Koalitionen zu einigen, ist die Aufgabe der gewählten Politikerinnen und Politiker."_ Seither reden die Parteiführungen miteinander – ohne neuen Auftrag zur Regierungsbildung. Der Präsident hat nach zwei gescheiterten Versuchen keinen mehr vergeben. Mit Stand heute sieht es so aus, als würden sich ÖVP und SPÖ diesmal einigen. Es wäre die erste Regierung außer der schwarz-blauen Koalition von 2000, die ohne den Auftrag des Präsidenten entsteht. Bei ihrer Angelobung wird Alexander van der Bellen vermutlich trotzdem nicht sehr finster schauen. * * * _Foto: Präsidentschaftskanzlei / Peter Lechner_ Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Die Sache mit dem “Auftrag” https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F02%2F20%2Fdie-sache-mit-dem-auftrag%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Die Sache mit dem “Auftrag”&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F02%2F20%2Fdie-sache-mit-dem-auftrag%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
March 5, 2025 at 8:00 PM
Wer wird Österreich regieren? Keine Ahnung
Ich geb´s auf und melde mich hiermit offiziell aus dem Prognose-Business ab. Ich kann es offensichtlich nicht. Dabei dachte ich, dass ich nach mehr als 30 Jahren journalistischer Erfahrung in der heimischen Politik die Rahmenbedingungen, Interessen und Akteur·innen halbwegs qualifiziert einschätzen kann. Deshalb hatte ich vor der Nationalratswahl hier im Blog ausführlich erklärt, warum der nächste Bundeskanzler mit größter Wahrscheinlichkeit wieder Karl Nehammer heißen wird. Und nach dem spektakulären U-Turn der ÖVP Anfang Jänner, dass es — immerhin: "Stand heute" — Herbert Kickl sein wird. I rest my case. Ganz offensichtlich habe ich die Rolle von Rationalität und Logik in der österreichischen Politik maßlos überschätzt und als Trost bleibt mir nur, dass es dem Professor — Peter Filzmaier nämlich, auf dessen Urteil ich sehr vertraue — sehr ähnlich geht. Fakt ist: Nach jeder Logik hätten die "Dreiko"-Verhandlungen zu einer gemeinsamen Regierung führen müssen, weil jede der drei Parteien regieren wollte und jede durch das Scheitern ihre Position verschlechtert hat. Für SPÖ und Neos hieß es weiter Opposition, für die ÖVP Juniorpartner statt Kanzlerpartei. Und selbst diese Option blieb ihr nur, weil sie über Nacht ihr zentrales Wahlversprechen — keine Regierung mit Kickl — in die Luft gesprengt und ihren Parteichef geopfert hat. Ich hatte das nicht erwartet. Aber woran ist nun Blau-Schwarz gescheitert? Auch hier war die Ausgangslage klar: Für die FPÖ war es die erste Chance, einen Kanzler zu stellen, für die ÖVP die letzte Chance, in der Regierung zu bleiben. Die beiden Parteien haben schon mehrfach auf Bundesebene koaliert, sie stellen aktuell fünf gemeinsame Landesregierungen, vier unter ÖVP-Führung, eine mit einem FPÖ-Chef. Und niemand zweifelte daran, dass die ÖVP den Freiheitlichen inhaltlich weit näher steht als der SPÖ. Nachdem das "Nein zu Kickl" gefallen war, sollte das also relativ rasch gehen. **Die Fehlkalkulation** Doch offenbar gab es auf beiden Seiten eine zentrale Fehlkalkulation: Die ÖVP rechnete anscheinend damit, dass die Freiheitlichen so froh über ihre unverhoffte Regierungsoption wären — noch dazu als Kanzler-Partei —, dass sie in den Verhandlungen nicht allzu sperrig sein würden; ähnlich wie 2017 zwischen Kurz und Strache oder zuletzt bei den Landesregierungen in Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg und der Steiermark. Doch die FPÖ sah das ganz anders: Sie war der Wahlsieger und die ÖVP — die keinesfalls in Opposition will und auch keine Neuwahlen —hatte keine Alternativen mehr und würde ihr sehr weit entgegenkommen müssen. Und so legte Herbert Kickl Forderungen auf den Verhandlungstisch, als hätten die Freiheitlichen im September nicht 29 Prozent gewonnen, sondern 49. Wobei schon rätselhaft ist, weshalb die FPÖ dabei auch Dinge verlangte, von denen sie wissen _musste_ , dass sie für die ÖVP undenkbar sind, wie ein Ende der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern oder der steuerlichen Absetzbarkeit für Kirchenbeiträge. Mit rationaler Verhandlungstaktik ist das schwer zu erklären, das klingt einfach nach Provokation (wie schon Kickls Demütigungsrede vor Beginn der Gespräche). Trotzdem wäre es daran nicht gescheitert. Aber zwei zentrale Themen — die sich bei Koalitionsverhandlungen in Bundesländern nicht stellen — waren nicht überwindbar: Die EU-Politik und das Innenministerium. **Der Rollenwechsel** 2017 hatte sich die FPÖ dem europapolitischen Kurs der ÖVP untergeordnet. Wahlsieger Sebastian Kurz nahm die EU-Agenden vom Außenministerium mit ins Kanzleramt und überließ der FPÖ großzügig das Außenamt (Karin Kneissl lebt heute als hauptberufliche Putin-Adorantin in Russland) und sogar das Innenministerium (für Herbert Kickl — bis zu seiner Entlassung). Aber den politischen Kurs der türkis-blauen Koalition bestimmte ganz eindeutig Kanzler Kurz. Heinz-Christian Strache war der Juniorpartner ("Minister für Sport und Freizeit", spottete Kurz mal privat) — nicht nur formal, sondern vor allem politisch. Diesmal sollte es andersrum sein. Herbert Kickl wollte das freiheitliche Europaprogramm ("EU-Wahnsinn stoppen") in das Regierungsabkommen schreiben. Und auch sonst zeigt das geleakte Verhandlungsprotokoll zahllose FPÖ-Forderungen, die für die ÖVP schwierig bis inakzeptabel waren. Ausnehmend unfreundlich war auch Kickls erster Vorschlag zur Ressortverteilung: Er verlangte für die Freiheitlichen das Finanzministerium, das Innenministerium und im Kanzleramt weiterhin die Agenden für Medien, Kultur, Verfassung und EU. Ab diesem Moment begannen die Verhandlungen zu kollabieren. Für die ÖVP war das Innenministerium von Beginn an unverhandelbar, dazu das Außenamt _mit_ den EU-Agenden und auf das Finanzministerium hatte sie noch ernstlich gehofft. Am Ende scheiterte es am Innenministerium, auf dem beide Parteien ultimativ beharrten. **Und jetzt?** Letztlich haben sich beide verkalkuliert. Herbert Kickl ist mit der historischen Chance aufs Kanzleramt gescheitert und kann nun bestenfalls hoffen, bei der nächsten Wahl noch ein paar Prozent zu gewinnen, um mit noch höherer Parteienförderung weiterhin von der Oppositionsbank aus "das System" zu bekämpfen. Die ÖVP hat ihren Parteichef geopfert und dazu einen Gutteil ihrer Glaubwürdigkeit, aber sie kann zumindest damit rechnen, auch in der nächsten Regierung eine Rolle zu spielen. Wie geht es nun weiter? Der Bundespräsident hat offenbar überlegt, ein Kabinett aus (Alt-)Politiker·innen und Expert·innen einzusetzen, das für die Sanierung des Budgets von ÖVP, SPÖ, Neos und Grünen im Parlament gestützt werden müsste. Vorher gibt es aber nochmal Gespräche zwischen ÖVP und SPÖ, ob nicht doch noch eine Zweier- (oder Dreier-)Koalition möglich ist. Scheitert beides, gehen wir im Frühsommer wieder wählen. Wer wird Österreich regieren? Ich habe keine Ahnung. * * * _Foto: Bundeskanzleramt Fotoservice / Andy Wenzel_ Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Wer wird Österreich regieren? Keine Ahnung https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F02%2F13%2Fwer-wird-regieren-keine-ahnung%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Wer wird Österreich regieren? Keine Ahnung&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F02%2F13%2Fwer-wird-regieren-keine-ahnung%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
February 20, 2025 at 7:59 PM
50 Jahre ZiB2
Am 3. Februar 2025 feiert die ZiB2 ihren 50. Geburtstag — und ist damit das älteste tägliche Nachrichtenmagazin im deutschsprachigen Fernsehen. Die ARD-_Tagesthemen_ und das _heute-journal_ des ZDF starteten erst Anfang 1978, also knapp drei Jahre später, und das Schweizer Pendant _10 vor 10_ überhaupt erst 1990. Der _Falter_ nennt die ZiB2 in seiner jüngsten Ausgabe „Österreichs wichtigste Nachrichtensendung“ _—_ und das aktuelle _TVmedia_ schreibt: “1975 war sie noch ein Experiment, heute ist die ZiB2 das spannendste News-Format im TV.“ Was uns naturgemäß freut. Zu Beginn war die Sendung tatsächlich ein Experiment — ich habe zum 40. Geburtstag hier im Blog ein bisschen was zur Entstehung und zur Geschichte der Sendung geschrieben, auch mit historischen Bildern. (Und hier noch ein Text über Robert Hochner, der die ZiB2 als Moderator von 1979 bis zu seinem schrecklich frühen Tod im Jahr 2001 geprägt hat wie niemand sonst.) * * * * * * Aber in keinem Jahrzehnt der ZiB2-Geschichte ist so viel passiert wie in den letzten zehn Jahren, seit unserem 40. Geburtstag: Flüchtlingsströme, IS-Terror, Brexit, Trump, Pandemie, Wirtschaftskrise, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Rekordinflation, der 7. Oktober in Israel, Gaza-Krieg, Trumps Comeback — und über allem die Klimakrise. In Österreich hieß 2015 der Kanzler noch Faymann, bald Kern, Kurz, Bierlein, nochmal Kurz, Schallenberg, Nehammer, wieder Schallenberg und demnächst wohl Kickl. 2016 wurde der Bundespräsident gleich drei Mal gewählt, 2017 auf Ibiza zu viel getrunken, 2018 der Verfassungsschutz gestürmt, mehrere Jahre lang tippte ein Spitzenbeamter rund 300.000 Chat-Nachrichten in sein Handy und ein vermeintlicher Immobilien-Milliardär ging spektakulär bankrott. Doch auch _in_ der ZiB2 hat sich sehr viel getan: Vom Sendungsteam, das ich zum 40er beschrieben habe, sind zehn Jahre später noch genau zwei Personen in der Redaktion: Chef vom Dienst Johann „Ulli“ Ullmann und ich. Alle anderen aktuellen Kolleg·innen sind später zu uns gestoßen, von Redaktionsleiter Christoph Varga (2018) über die Moderator·innen Martin Thür, Margit Laufer und Marie-Claire Zimmermann (als Rückkehrerin — „MC“ hat schon von 2007 bis 2010 mit mir moderiert) bis zu den Reporter/Producer·innen Peter Babutzky, Sinan Ersek, Madeleine Gromann, Patrick Gruska, Harald Jungreuthmayr und Regina Pöll. Zum 50er habe ich für das Team letzte Woche T-Shirts besorgt, mit einem Slogan, den ich von der amerikanischen _Daily Show_ ausgeliehen hatte: „THE BEST FU#@ING NEWS TEAM EVER“. Weil‘s wahr ist. [caption id="attachment_46980" align="aligncenter" width="600"] Das ZiB2-Team 2025 (v.l.n.r.): Peter Babutzky, Regina Pöll, Patrick Gruska, Christoph Varga, Armin Wolf, Marie-Claire Zimmermann, Ex-Moderatorin Ingrid Thurnher, Martin Thür, Ulla Kramar-Schmid, Margit Laufer (nicht im Bild: Madeleine Gromann, Sinan Ersek, Harald Jungreuthmayr)[/caption] * * * Auch die Sendung selbst hat sich verändert. Seit 2019 gibt es die ZiB2 auch am Sonntag (ausnahmsweise um 21h50), seit 2023 kommt sie aus einem vollautomatisierten Studio im neuen multimedialen Newsroom des ORF. Vor allem aber hatten wir in den letzten Jahren neben unseren Reportagen und Studiogesprächen sehr viel mehr exklusive Enthüllungen: Mit Ulla Kramar-Schmid und Martin Thür, die beide für ihre Recherchen vielfach ausgezeichnet wurden, ist die ZiB2 zu einer der führenden investigativen Redaktionen des Landes geworden. Das meistzitierte Medium Österreichs sind wir nicht mehr nur wegen der Live-Interviews, sondern vor allem auch wegen unserer vielen exklusiven Recherchen. Was ist noch passiert? Im Frühling 2020, während der ersten Monate der Pandemie, wohnte und arbeitete ein ZiB2-Team knapp sechs Wochen lang in einem abgerieglten „Isolationsbereich“ des ORF-Zentrums (im Blog habe ich davon erzählt). Die Corona-ZiBs dauerten teilweise über eine Stunde und die Quoten waren atemberaubend. Viele Sendungen wurden von einer Million Menschen oder mehr gesehen, von 2020 bis 2022 hatte die ZiB2 die höchste Reichweite ihrer langen Geschichte, mit durchschnittlich rund 800.000 Zuseher·innen täglich. Mein persönliches Highlight der letzten zehn Jahre hat sich allerdings nicht im Studio abgespielt und auch nicht im ORF-Zentrum, sondern in Moskau, im Großen Präsidentenpalast des Kreml. Das Gespräch mit Wladimir Putin im Juni 2018 war mit Abstand das schwierigste Interview, das ich je geführt habe und das mit der größten internationalen Resonanz. Sehr am Herzen lag mir eine Reportage-Serie, die wir im Sommer 2017 drehten. In seiner brillanten Studie _Rückkehr nach Reims_ hatte der französische Soziologe Didier Eribon die (politische) Veränderung seines Heimatorts und -milieus seit seiner Jugend beschrieben. Davon inspiriert entwickelten wir die ZiB2 _-Homestories:_ Neun Reporter·innen aus allen Bundesländern besuchten mit der Kamera nach Jahrzehnten ihre Herkunftsorte wieder — in meinem Fall wurde es eine Rückkehr ins Olympische Dorf in Innsbruck, wo ich in den 1970er Jahren aufgewachsen bin. Zum runden Jubiläum der ZiB2 sind nun in einem _Best of_ -Archiv von ORF.on mehr als 100 Videos aus einem halben Jahrhundert zu sehen, darunter die bekanntesten und besten Interviews — von Yassir Arafat, Peter Ustinov oder Arnold Schwarzenegger im Gespräch mit Robert Hochner, über Elmar Oberhauser mit Willy Brandt, Rudolf Nagiller mit Kurt Waldheim, Gerhard Vogl mit Simon Wiesenthal, Ingrid Thurnher mit Bud Spencer & Terence Hill (und natürlich auch mit Otto) bis zu Martin Thürs großartigem Interview mit Sebastian Kurz nach der Hausdurchsuchung im Kanzleramt. Es gibt davon einen sehenswerten Trailer. Ich durfte Gespräche mit Harald Vilimsky, Erwin Pröll und Richard Lugner beisteuern, die auf Sendung ein wenig die Contenance verloren — und eine Begegnung mit Frank Stronach, der mir direkt nach dem Interview, während der nächste Beitrag lief, in seinem Kanada-Steirisch sehr direktes Feedback gab: „Du hoscht jetzt aber schon sehr dumme Frogn geschtellt.“ So ehrlich sind Studiogäste selten. Vor allem aber hat mein Kollege Patrick Gruska in den letzten Wochen eine hinreißende ZiB2-_History_über unsere ersten 50 Jahre produziert, mit großartigen Beiträgen von Peter Fritz, Peter Babutzky und Birgit Schwarz. Margit Laufer war in Mainz im ZDF-Studio bei Marietta Slomka vom _heute-journal_ und hat sie übers Interviewen interviewt und ich habe im (fast) originalen Studio der ersten ZiB2 einen Zeitzeugen getroffen: Rudolf Nagiller, heute 81 und viele Jahrzehnte lang einer der ganz großen ORF-Journalisten, war 1975 Inlands-Chef der _Zeit im Bild_ um 19h30, als ein kleines Team rund um Kuno Knöbl eine zweite, ziemlich „andere“ Nachrichtensendung erfand. Wie die ersten Reaktionen darauf waren? _„_ Staunen“, erinnert sich Nagiller: „Großes Staunen.“ Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=50 Jahre ZiB2 https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F02%2F02%2F50-jahre-zib2%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=50 Jahre ZiB2&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F02%2F02%2F50-jahre-zib2%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
February 13, 2025 at 7:56 PM
„Die Zerstörung des ORF beginnt“
Seit gestern verhandeln die FPÖ und die ÖVP über die Medienpolitik einer künftigen blau-schwarzen Koalition — und die Freiheitlichen reden dabei ganz offen über ihre Pläne für den ORF. Sie wollen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk de facto verstaatlichen und dabei Programm und Personal massiv reduzieren. Der ORF soll künftig aus dem staatlichen Budget finanziert werden — und wesentlich weniger Geld bekommen als bisher. Der freiheitliche Stiftungsrat Westenthaler hat auf oe24.tv bereits von „500 Millionen“ gesprochen (aktuell hat der ORF ein Gesamtbudget von knapp 1,1 Milliarden, knapp 700 Millionen davon kommen aus dem Rundfunkbeitrag). Den neuen Rundfunkbeitrag will die FPÖ jedenfalls abschaffen, weil das Loch im aktuellen Budget aber schon viel zu groß ist, wird das wohl vorerst verschoben. (Hier habe ich mal ausführlich erklärt, warum es sehr sinnvoll ist, den ORF aus Beiträgen aller Menschen im Land zu finanzieren und nicht aus dem Staatsbudget.) Aber FPÖ-Mediensprecher Hafenecker fordert vom ORF sofortige Einsparungen von 15 Prozent. Ob er damit eine Reduktion des ORF-Beitrags in dieser Höhe meint oder des ORF-Gesamtbudgets (inkl. Werbung und anderer Erträge), hat er bisher nicht erklärt. In einem Fall ginge es um ein Minus von ca. 100 Millionen Euro pro Jahr, im anderen wären es gut 150 Millionen weniger. Das Ziel der FPÖ ist jedenfalls ein „Grundfunk“, ein drastisch verkleinerter, vom Staat finanzierter Rundfunk — oder wie die Redakteursvertreter·innen des ORF heute warnen: Es geht letztlich darum, den Rundfunk „dem Gutdünken der Regierung zu unterwerfen“. In einem sehr ausführlichen offenen Brief (siehe unten) erklärt die gewählte Redaktionsvertretung aller ORF-Journalist·innen heute, was da gerade auf dem Spiel steht: Das größte Medienunternehmen Österreichs, das in Radio, Fernsehen, online und via Social Media jeden Tag mehr als 80 Prozent und jede Woche mehr als 90 Prozent aller Menschen in Österreich mit Information, Kultur, Bildung, Sport und Unterhaltung versorgt. Man kann am ORF vieles kritisieren — in Programm und Organisation —, aber dass er in einem Zeitalter grassierender Fake News, Propaganda und Desinformation eine Bastion an seriösem Journalismus ist, die man gerade jetzt nicht schleifen oder irreperabel beschädigen sollte, darauf sollten wir uns eigentlich einigen können. Würde man den ORF-Beitrag um 15 Prozent kürzen, wären das 13,00 statt 15,30 Euro pro Monat - bzw. 43 Cent statt 50 Cent pro Tag. Für keinen beitragspflichtigen Haushalt in Österreich macht das einen spürbaren Unterschied. Für den ORF wäre es eine Katastrophe. Programme (ORFIII, FM4) müssten eingestellt und mehrere hundert Mitarbeiter·innen gekündigt werden. Mit der letztlich geplanten (noch geringeren) Finanzierung aus dem staatlichen Budget würde aus einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der uns allen — eben der _Öffentlichkeit_ — gehört, ein Staatsfunk, der jedes Jahr bei der Regierung um Geld betteln muss. Hier der offene Brief der ORF-Redaktionsvertretung in voller Länge: * * * 24. Jänner 2025 **Die Zerstörung des ORF beginnt** Aus parteipolitischer Taktik will die FPÖ den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ruinieren. Mit dem Ziel: Partei-Propaganda statt unabhängiger Berichterstattung. Zu den Medien-Plänen der FPÖ hält der ORF-Redaktionsrat fest: Seit vielen Jahren diffamiert die FPÖ den ORF und seine Journalistinnen und Journalisten. Die Partei macht gezielt Stimmung gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seriöse Zeitungen. Dahinter stehen rein parteipolitische Motive: Qualitäts-Medien sollen geschwächt werden. Der ORF soll finanziell ausgehungert werden, zum Kürzen seines Angebots gezwungen und personell nach den Wünschen der FPÖ umgebaut werden. Über Jahre hinweg hat die FPÖ den ORF zu ihrem Feindbild aufgebaut. In der Regierung will sie umsetzen, was sie seit langem ankündigt: den ORF auf einen „Grundfunk“ zusammenstutzen, die Finanzierung massiv kürzen und den Rundfunk damit dem Gutdünken der Regierenden unterwerfen. Worum es der FPÖ geht, hat der damalige Partei-Chef Heinz-Christian Strache im Ibiza-Video erklärt: „Wir wollen eine Medienlandschaft ähnlich wie der Orban aufbauen.“ In Ungarn wird kritische Berichterstattung durch den Entzug öffentlicher Inserate sanktioniert, private Medien wurden von Orbans Gefolgsleuten aufgekauft und der öffentlich-rechtliche Rundfunk streng auf Regierungslinie gebracht. Für Österreich heißt das die Zerstörung des unabhängigen ORF. Die FPÖ bezeichnet den ORF seit langem als „Staatsfunk“ und „Regierungsfunk“ – dabei strebt die Partei genau das an: einen staatlich finanzierten Sender, mit direktem Zugriff auf das Personal in Stiftungsrat und Management. Wer nicht im Sinne der FPÖ berichtet, wird als „linkslinker Parteigänger“ und „Gesinnungs-Journalist“ gebrandmarkt. Missliebige Journalistinnen und Journalisten werden oft persönlich angegriffen, diffamiert und in den sogenannten sozialen Medien der Beschimpfung und Bedrohung ausgesetzt. Statt kritischen Journalismus und Qualitätsmedien zu unterstützen, will die FPÖ das Steuergeld in ihr nahestehende Medienkanäle lenken. Statt Information durch unabhängige Medien wie dem ORF und andere Qualitätsmedien, soll es Propaganda ganz im Sinne der Partei geben. Dabei sind Qualitätsmedien eine wesentliche Infrastruktur jeder Demokratie und haben sich nach dem Ende der faschistischen und kommunistischen Diktaturen in Europa bewährt. Sie bieten einen einfachen Zugang zu umfassenden und seriösen Informationen für alle und garantieren eine ausgewogene Berichterstattung. Dies ist umso wichtiger in einer Zeit, in der mit gezielter Desinformation aus dem Ausland versucht wird, die Demokratien Europas zu beeinflussen, Wahlen zu manipulieren und die freien Gesellschaften zu destabilisieren. Glaubwürdige Qualitätsmedien sind in demokratischen Ländern unerlässlich, um diesen immer bedrohlicheren Angriffen standzuhalten. Der ORF ist das dabei wichtigste Medium in Österreich – mit den höchsten Vertrauenswerten in der Bevölkerung. Fast 80 % aller Österreicherinnen und Österreicher ab 14 Jahren nutzen täglich das ORF-Angebot, 90 % nutzen es mindestens einmal pro Woche. Der ORF hat einen öffentlichen Auftrag, deswegen wird er öffentlich finanziert und kontrolliert – durch den Rechnungshof, die Medienbehörde und die ORF-Gremien und letztendlich durch unser Publikum selbst. **Fakten zur Finanzierung:** - Für 3,2 Millionen Haushalte ist die neue Haushaltsabgabe mit 15,30 Euro pro Monat um ein Drittel günstiger als die alte GIS. Für 50 Cent pro Tag bietet der ORF ein umfassendes Angebot im Radio, TV, Online und Streaming mit Information, Sport, Kultur und Unterhaltung. - Der ORF spart bereits massiv: seit 2007 wurden fast 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgebaut und in den vergangenen sieben Jahren 450 Millionen Euro eingespart. Die Gehaltsabschlüsse der vergangenen Jahre gehören zu den niedrigsten in ganz Österreich und lagen weit unter der Inflation. - Rund 300.000 Haushalte mit geringem Einkommen sind von der Abgabe gänzlich befreit und haben trotzdem einen vollen Zugang zu allen ORF-Angeboten und damit die Möglichkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft. - Rund 100 Millionen Euro gehen direkt in die österreichische Filmwirtschaft und sichern dort die Arbeitsplätze. - Rund 120 Millionen Euro gehen in die heimische Kultur, die mit dem ORF eine große Bühne bekommt. - Rund 120 Millionen kommen dem heimischen Sport zugute. **Über den öffentlich-rechtlichen Mehrwert unserer Programme:** - ORF-Gesetz, Programmrichtlinien, Verhaltenskodex und ein Redaktionsstatut, dass Rechte und Pflichten der Journalistinnen und Journalisten festlegt, garantieren eine umfassende und gesetzlich festgelegte Qualitätssicherung. - Die „Bundesland Heute“ Sendungen sind für viele Menschen in Österreich wichtige Informationsquelle über ihr Bundesland. - Auf ORF 1 und ORF 2 sind rund 90 % des Programms untertitelt um hörbehinderten und schwerhörigen Menschen einen barrierefreien Zugang zu verschaffen. - Mit „Nachrichten in einfacher Sprache“ in TV, Radio und Online ist der ORF europaweiter Vorreiter. - Ö1 ist das erfolgreichste Kultur- und Informationsradio in Europa, ORF III einer der erfolgreichsten Kultur- und Informations-Fernsehsender. - Ö3 bietet mit der einzigen 24-Stunden-Nachrichtenredaktion Österreichs rund um die Uhr verlässliche Informationen aus aller Welt. - Der Radiosender FM4 leistet einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg junger österreichischer Musikschaffender. - Für die jungen Menschen wurde mit der Präsenz der ZiB auf Social Media eine der erfolgreichsten Informationskanäle Europas geschaffen. - Der ORF bietet Programm für alle anerkannten Volksgruppen in sechs Sprachen. Das alles für 50 Cent pro Tag. Und das alles wird in Frage gestellt, wenn der ORF im Sinne der FPÖ umgebaut wird. Wenn die ÖVP ihr Bekenntnis zu Demokratie und Medienfreiheit ernst meint, kann sie den Plänen des potenziellen neuen Regierungspartners nicht zustimmen. Es sind nun die Tage der Entscheidung. Wir rufen alle Verantwortungsträger und die Zivilgesellschaft Österreichs auf, sich für den Erhalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Qualitätsmedien einzusetzen. Der Schaden durch eine Zerstörung wäre nicht wieder gutzumachen. Der Redaktionsrat Dieter Bornemann, Simone Leonhartsberger, Peter Daser, Margit Schuschou Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=„Die Zerstörung des ORF beginnt“ https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F01%2F24%2Fdie-zerstoerung-des-orf-beginnt%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=„Die Zerstörung des ORF beginnt“&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F01%2F24%2Fdie-zerstoerung-des-orf-beginnt%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
February 1, 2025 at 7:59 PM
Wer wird Österreich regieren? Neuer Versuch
Eine Woche vor der Nationalratswahl im September habe ich hier im Blog sehr ausführlich — und wie ich überzeugt war, sehr logisch — erklärt, dass nach der Wahl der neue Bundeskanzler so heißen wird wie der alte, Karl Nehammer also. Das war ganz offensichtlich falsch. Mit Stand heute Abend wird der nächste Bundeskanzler Herbert Kickl heißen, als erster freiheitlicher Regierungschef der Zweiten Republik und als Chef einer blau-schwarzen Koalition. Das habe ich nicht nur für sehr unwahrscheinlich gehalten, sondern de facto für ausgeschlossen. War ich schlecht informiert? Hatte ich etwas Wesentliches übersehen? Habe ich unlogisch argumentiert? Ich glaube nicht. Ich bin nur davon ausgegangen, dass die FPÖ bei der Wahl keine absolute Mehrheit erringen wird (das stimmte, es waren 28,85 Prozent). Und ich bin davon ausgegangen, dass die einzigen beiden Parteien, die der FPÖ theoretisch eine Regierungsmehrheit beschaffen könnten — also ÖVP und SPÖ —, ihr zentrales Wahlversprechen halten werden, nämlich Herbert Kickl nicht zum Kanzler zu machen. Das war im Fall der ÖVP offensichtlich naiv. Nun bin ich seit fast 40 Jahren Journalist, seit mehr als 30 Jahren berichte ich über Innenpolitik und ich hätte mich da nicht für naiv gehalten. caption id="attachment_46755" align="alignleft" width="200"] ÖVP-Broschüre 2024/caption] In einem langen Wahlkampf (und auch in den Monaten seither) habe ich zahllose Aussagen von führenden Politiker·innen der Volkspartei gesehen, gehört und gelesen, wonach eine ÖVP-Regierung mit Herbert Kickl absolut, völlig und kategorisch undenkbar sei. (Der STANDARD hat eine lange — und trotzdem bei weitem nicht vollständige — Liste.) Im Wahlkampf hatte die ÖVP eine 17seitige Broschüre auf ihre Website gestellt, als Argumentationshilfe für ihre Funktionär·innen: „Kickl kann‘s nicht“. Heute war sie noch online. Für mich war klar: Aus dieser Festlegung kommt Karl Nehammer nicht mehr heraus. Das war letztlich auch so: Karl Nehammer macht keine Koalition mit Kickl, sondern kündigte umgehend seinen Rücktritt als Kanzler und Parteivorsitzender an. Und selbstverständlich bin ich davon ausgegangen, dass diese Linie für die gesamte ÖVP-Spitze gilt, die sich so eindeutig festgelegt hatte. Ganz besonders für Nehammers rechte Hand und Nummer 2 in der Partei: Generalsekretär Christian Stocker. (Die ZiB2 hat einschlägige Stocker-Aussagen zusammengestellt.) Doch gestern war plötzlich alles anders. Nach einer — nichtmal sehr langen — ÖVP-Vorstandssitzung waren die zahllosen Warnungen vor dem „Sicherheitsrisiko“ Kickl, vor dem „Rechtsextremen“, mit dem „kein Staat zu machen“ sei und den im Parlament „niemand will“ und „in dieser Republik niemand braucht“, bedeutungslos — quasi Wahlkampf-Folklore, wo man ja schnell mal etwas schärfer wird. Der neubestellte ÖVP-Chef Stocker wünschte sich in einer Pressekonferenz vom Bundespräsidenten den Regierungsauftrag für Herbert Kickl und von der FPÖ eine Einladung zu Verhandlungen. Vor wenigen Tagen noch hatte der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler erklärt, bei einer Koalition mit Herbert Kickl würde es [„die ÖVP zerreißen“. Offensichtlich ein Irrtum: Die Bestellung von Christian Stocker zum geschäftsführenden Parteiobmann war einstimmig, bei seiner öffentlichen Bitte um eine FPÖ-Einladung sekundierten ihm die Vorsitzenden der ÖVP-Bünde und der aktuelle Chef der Landeshauptleutekonferenz. Widerspruch? Bisher keiner. Den Abbruch der Regierungsverhandlungen mit der SPÖ erklärt die Volkspartei nun damit, dass sie auch _nach_ der Wahl halten würde, was sie _vor_ der Wahl versprochen hatte, nämlich „keine neuen Steuern“. Das war tatsächlich ein zentrales Wahlversprechen der ÖVP. Doch mindestens ebenso zentral war das Versprechen: „Keine Koalition mit Kickl“. Warum hier nach der Wahl nicht mehr gilt, was vorher versprochen wurde, hat bisher niemand nachvollziehbar erklärt. Beim — erwartbaren — Ergebnis der Nationalratswahl sprach jede politische Logik für eine Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und Neos: Die Volkspartei hätte — trotz Wahldebakel und Platz 2 — den Kanzler behalten können, die SPÖ wollte wieder regieren und die Neos hätten endlich mitgestalten können. Dass dafür schmerzhafte inhaltliche Kompromisse nötig gewesen wären, war klar. Aber alle drei Parteien wären mit einer gemeinsamen Regierung besser ausgestiegen als jetzt: Neos und SPÖ setzen nun gar nichts um, sondern müssen wieder in Opposition. Die ÖVP kann zwar weiter regieren, aber nicht mehr als Kanzlerpartei, sondern — nach Koalitionsgesprächen, in denen sie mangels Alternative de facto keine Verhandlungsmacht mehr hat — als Juniorpartner der FPÖ. Ganz offensichtlich habe ich Logik als politische Kategorie überschätzt. Der neue Bundeskanzler wird _nicht_ so heißen wie der alte. Diese Prognose stimmt nun wirklich. PS: Was ist da passiert in den letzten Tagen, wie sicher kommt eine blau-schwarze Koalition unter Herbert Kickl, was bedeutet das und was würde passieren, sollten auch diese Verhandlungen scheitern? — All das habe ich heute ausführlich mit Peter Filzmaier besprochen, für eine aktuelle Sonderausgabe unseres Podcasts [„Der Professor und der Wolf“. Zu hören überall, wo es Podcasts gibt, und hier zu sehen: Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Wer wird Österreich regieren? Neuer Versuch https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F01%2F06%2Fwer-oesterreich-ein-versuch%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Wer wird Österreich regieren? Neuer Versuch&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2025%2F01%2F06%2Fwer-oesterreich-ein-versuch%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
January 24, 2025 at 7:45 PM
Hat sich der #eXit gelohnt?
Vor sechs Wochen, am 17. November, bin ich gemeinsam mit etlichen anderen österreichischen Journalist·innen übersiedelt — von Twitter/X, wo ich über 15 Jahre lang quasi zuhause war, auf Bluesky. Seit gestern folgen mir auf Bluesky mehr als 50.000 Menschen, also eine ganze Menge (vielen Dank!). Auf X hatte ich zuletzt allerdings 640.000 Follower und den mit Abstand größten Account im Land. Hat sich der #eXit trotzdem gelohnt? Ja, das hat er. Und ich habe ihn keinen Tag bereut, auch wenn ich auf Bluesky noch nicht ganz im Himmel bin. Es war jedenfalls richtig, X als aktiver User zu verlassen. Das zeigt sich mit jedem neuen Tweet von Elon Musk. Ich schreibe nicht für _Russia Today_ , warum sollte ich der Propaganda-Plattform eines offen rechtsradikalen Politikers — und das ist Musk mittlerweile — meinen Content schenken? Weshalb ich glaube, dass Musk mein langjähriges Lieblingsmedium Twitter kaputt gemacht hat, habe ich am 17. November ausführlich begründet. Ich habe damals auch erklärt, warum ich meinen X-Account trotzdem bisher nicht lösche. Mal abgesehen davon, dass ich verhindern will, dass wer anderer unter meinem Namen twittert, brauche ich die Plattform — leider — nach wie vor beruflich. Mir wäre lieber, es wäre nicht so, aber in _B_ _reaking News_ -Nachrichtenlagen wie dem Umsturz in Syrien oder dem Flugzeugabsturz in Kasachstan ist X als superschnelle Info-Quelle Bluesky noch überlegen. Das ist für die Arbeit in einer _News_ -Redaktion, in der ein paar Minuten Info-Vorsprung oft sehr hilfreich sind, nicht unwesentlich. Ich finde dort auch relevante Expert·innen, die (noch) nicht auf Bluesky erreichbar sind. D.h., ich nütze X noch passiv, habe meinen Account aber stillgelegt. Was ich gar nicht vermisse, sind die Diskussionen auf X, weil sie zuletzt — jedenfalls für sehr große Accounts — unerträglich waren. Unter jedem politischen Posting von mir standen Dutzende bis hunderte „Kommentare“ anonymer Aggro-Trolle, von denen das dutzendfache _„Heul leise!“_ noch die gehaltvollsten waren. Es hat schlicht keinen Spass mehr gemacht und keinen Sinn. **WAS ICH VERMISSE** Aber ich vermisse etliche Accounts, denen ich auf X gefolgt bin und deren Standpunkte mich interessieren, auch wenn ich sie oft nicht teile. Die dümmste Kritik am #eXit war ja, da wären Leute von Twitter geflüchtet, die _„keinen Widerspruch aushalten“_ würden. Sorry, aber Widerspruch und der Umgang damit ist quasi mein Beruf. Ich liebe Debatten auch privat — und zwar mit Menschen, die nicht meiner Meinung sind. Meine Meinung kenne ich schon, aber ich werde gerne gescheiter. Die Debatten sollten jedoch mit gewissen Alltags-Umgangsformen geführt werden — v.a. aber mit Argumenten statt mit Beleidigungen. Auf Bluesky ist mir noch zu wenig Debatte. Das hat wohl auch damit zu tun, dass etliche (v.a. konservativere) Accounts lieber auf X geblieben sind, was mir ehrlich ein Rätsel ist. Noch mehr Rätsel ist mir aber, weshalb viele wichtiger Politiker·innen nach wie vor auf X (und nur dort) posten: Auf einer Plattform, die fast alle relevanten (EU-)Gesetze ignoriert, betrieben von einem Mann, der traditionelle Parteien praktisch täglich verhöhnt und der ohne Ende _Fake News_ und Verschwörungsfantasien verbreitet (und von seinem Algorithmus auch noch millionenfach multiplizieren lässt). **WO BLEIBT DIE POLITIK?** Unter nahezu jedem Politiker-Posting dort bestehen die Reaktionen zu mindestens 90 Prozent aus Hohn, Hass und Hetze. Noch-Ministerin Edtstadler hat deshalb dieser Tage ihren X-Account gelöscht: _„Mit dieser Entscheidung möchte ich ein klares Zeichen setzen – insbesondere für alle Personen des öffentlichen Lebens“_. Völlig anders als Bundeskanzler Nehammer: Er preist Elon Musk für seinen _„wertvollen Beitrag zur Rede- und Meinungsfreiheit“_. Natürlich auf X. Die Kommentare unter dem Tweet widerlegen den Befund ziemlich eindrucksvoll. Ich hatte jedenfalls gehofft, dass nach vielen bekannten Journalist·innen aus Österreich auch viele politische Akteur·innen wechseln würden — auf eine neue Plattform, deren Algorithmus bezahlte Accounts, _Hate Speech_ und _Fake News_ nicht hochreiht und Tweets verbirgt, die zu seriösen Quellen verlinken. Denn wo die politischen Akteur·innen sind, findet logischerweise auch mehr (kontroverse) politische Debatte statt. Die geht mir bisher auf Bluesky noch ab. **VIEL ENGAGEMENT, WENIG DEBATTE** Meine größte positive Überraschung ist dafür das Niveau des Engagements. Ich bekomme auf praktisch jedes Bluesky-Posting mindestens so viele — eher mehr — sinnvolle Reaktionen als zuletzt auf X, obwohl meine Reichweite dort nominell 13 Mal größer war. Neuerdings gibts auch _„Mentions“_ und _„Lesezeichen“_(ich nütze die App „Skeets“), was Bluesky deutlich praktischer macht als zuvor. Was mir noch ein bisschen fehlt, sind Gruppen-DMs — vor allem aber noch mehr aktive und möglichst diverse Teilnehmer·innen. Ein Netzwerk lebt von seinen Mitgliedern. Momentan fühlt sich Bluesky für mich noch an wie Twitter 2009/2010. Das war schon sehr nett — aber Twitter im Jahr 2012 oder 2014 war noch deutlich interessanter. Ich bin hoffnungsfroh. Happy new year! * * * _Beitragsbild: unsplash.com/Vincenzo Di Giorgi_ Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Hat sich der #eXit gelohnt? https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F12%2F28%2Fhat-sich-der-exit-gelohnt%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Hat sich der #eXit gelohnt?&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F12%2F28%2Fhat-sich-der-exit-gelohnt%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
January 24, 2025 at 7:51 PM
Rau-e Zeiten
Am 11. Dezember feiert der große österreichische Journalist Hans Rauscher seinen 80. Geburtstag. _“Als Kommentator ist in diesem Land niemand wichtiger”_ , sagt - völlig zu Recht - sein ehemaliger Kollege und Chefredakteur Peter Rabl in einem Porträt, das ich für den STANDARD über “rau” schreiben durfte, mehr als vierzig Jahre nach unserem ersten persönlichen Treffen. Gestern ist es erschienen: DER STANDARD, 7.12.2024, S. 8 Der Text wurde im berüchtigt ruppigen STANDARD-Forum netterweise sehr freundlich aufgenommen, manche Poster·innen störten sich allerdings an der Schluss-Anekdote aus der Moskauer Hotelbar. Nein, natürlich sind nicht _“alle hübschen Russinnen Prostituierte” —_ was für eine absurde Idee. Aber in der Bar des einzigen Moskauer Ausländerhotels der 1980er-Jahre, in das man ja nicht einfach von der Straße hineinspazieren konnte, waren junge Frauen tatsächlich häufig Prostituierte, die vom Geheimdienst auf internationale Delegationen, Wirtschaftsleute oder Journalisten angesetzt wurden, um diese später mit dem _“Kompromat”_ zu erpressen. Hans Rauschers Rat war also schlicht professionell. Zu Rauschers lesenswertem - teils auch autobiografischen - neuen Buch “Worüber sich zu schreiben lohnt”, hatte Ö1 kürzlich einen Beitrag, den man hier hören kann. Von dort stammt auch das Titelbild oben. Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Rau-e Zeiten https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F12%2F08%2Frau-e-zeiten%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Rau-e Zeiten&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F12%2F08%2Frau-e-zeiten%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
January 24, 2025 at 7:45 PM
#eXit: Twitter ist leider kaputt
Im Februar 2009 hat meine Beziehung mit Twitter begonnen - knapp 16 Jahre und 126.725 Tweets später hört sie jetzt wieder auf. Es war sehr lange schön mit dir Twitter, aber in den letzten Jahren, seit du dich nur mehr X nennst und täglich immer weiter radikalisierst, war es gar nicht mehr schön, sondern vor allem giftig, voller Lügen, aggressiv und deprimierend. Ich hatte Twitter in den USA entdeckt, im Obama-Wahlkampf 2008, und mich kurz darauf registriert. In Österreich gab es damals ca. 4.000 Accounts, vor allem PR-Leute und IT-Nerds. Wegen meines Jobs im Fernsehen war ich hierzulande der erste halbwegs prominente Name auf der Plattform und hatte binnen weniger Wochen den größten Account im Land. Viele Jahre lang wurde ich Twitter-Neulingen automatisch als _„Who to follow“_ vorgeschlagen und mein Account wuchs gemeinsam mit der österreichischen Twitter-Gemeinde auf zuletzt knapp 640.000 Abonnent·innen. Vom ersten Tag an fand ich Twitter fabelhaft. Nirgendwo sonst konnte man sich so einfach mit Spitzen-Expert·innen und Thinktanks der unterschiedlichsten Bereiche vernetzen, unkomplizert den besten Medien weltweit folgen, Fachartikel lesen, für die man früher stundenlang in Uni-Bibliotheken saß, und immer wieder staunen und lachen. Twitter war eine geniale — und unfassbar schnelle — Nachrichtenagentur und gleichzeitig ein unerschöpfliches Archiv (in einem Interview mit einem deutschen Branchenmagazin habe ich 2017 ausführlich beschrieben, wie wichtig Twitter damals für meine Arbeit war). **DISKURS, DEBATTE, DISPUT** Genauso interessant fand ich die Plattform aber auch als Diskurs-Medium. Im Fernsehen senden wir, Rückmeldungen gab es früher maximal via E-Mail oder — immer seltener —im Kundendienst-Telefonprotokoll. Auf Twitter kam das Feedback noch während der Sendung, regelmäßig wurde ich auf Fehler oder Versprecher aufmerksam gemacht und konnte sie noch _on air_ korrigieren. Nach 22h30 antwortete ich auf Kommentare zur Sendung und immer wieder fragte ich Follower um Rat. Ein gesamtes ZiB2-Interview mit einem neuen Fussball-Teamchef bestritt ich Sport-Ignorant ausschließlich mit Frage-Ideen meiner Twitter-Community. Außerdem ließen sich dort deutlich jüngere Menschen erreichen als im klassischen Fernsehen und ein Publikum, für das eine _„Zeit im Bild“_ um 19h30 oder 22h00 nicht mehr quasi rituell zum Tagesablauf zählte. Wenn ich online was Interessantes oder Witziges las, habe ich es weiterverlinkt, auch meine Blog-Einträge von hier, ich habe unendlich viel gelernt und in Summe schätzungsweise 15.000 bis 20.000 Stunden Lebenszeit auf Twitter verbracht, den Großteil davon in Dialogen, Debatten, manchmal auch völlig unnötigen Streits. Und immer wieder habe ich argumentiert, warum seriöse Medien und Journalist·innen soziale Medien wie Twitter _„mit Journalismus fluten“_ sollten (z.B. hier, hier oder hier). **IRRE UND IHRE ANSTALT** Aber auf Twitter ist das für mich vorbei. Vor zwei Jahren hat Elon Musk das Unternehmen übernommen — _„Let that sink in!“_ —und sich vom ersten Tag an nach Kräften bemüht, sein 44 Milliarden-Dollar-Spielzeug als konstruktive Diskurs-Plattform zu zerstören. Die Moderations-Teams, die zumindest den ärgsten Irrsinn blockierten oder wieder löschten, wurden gefeuert, dafür die Werbe-Postings vervielfacht. Blaue Häkchen wurden nicht mehr an verifzierte Accounts vergeben, sondern an alle anonymen Trolle, die bereit war, dafür zu zahlen. Schnell zeigte sich, dass diese zahlenden Accounts viel öfter angezeigt wurden als alle anderen, während Tweets mit Links zu sinnvollen externen Inhalten ständig noch weniger _Views_ bekommen. Weitaus am häufigsten sind jedoch die Postings von Eigentümer Musk zu sehen, bei denen automatisch im Algorithmus steht: _“author_is_elon“_. Twitter wurde X —und von Irren geflutet: Propaganda-Bots, Neonazis, Rassisten, Sexisten, Incels, Verschwörungsparanoiker, _Fake News_ und Bullies ohne Ende. Und alles ohne Konsequenzen. Einen Account unter einem scheinbaren Klarnamen, auf dem praktisch jeder Tweet nach mehreren Paragrafen strafbar ist, bei X zu melden, ist eine völlig sinnlose Übung: * * * * * * Und natürlich gibt X — gegen alle gesetzlichen Vorschriften — die User-Daten dieser Trolle nicht heraus, womit sie auch juristisch nicht belangbar sind. (Man könnte natürlich auch X direkt klagen, Unternehmenssitz Irland — viel Erfolg!) **DER ÜBER-TROLL ALS CHEF** Die _„absolute Redefreiheit“_ , die Elon Musk mit fast religiösem Eifer predigt, und ein modifizierter Algorithmus haben es den Irren erlaubt, die Anstalt zu übernehmen. Ohne Blockier-Funktion wäre X schon seit langem unerträglich, ich hatte zuletzt 671 Accounts stummgeschaltet und 9.140 blockiert. Wer viele Follower hat, kann kein politisches Tweet mehr schreiben ohne Dutzende oder hunderte untergriffigste Kommentare großteils vermummter Aggro-Trolle. Für etwas exponiertere Frauen ist X ohnehin unzumutbar geworden. Und der Über-Troll ist leider der Chef, dem der Laden gehört. Elon Musk mag ein genialer Unternehmer sein und unermesslich reich — aber auf X verbreitet er ohne jede Hemmung Verschwörungs-Fantasien, Desinformation und _Fakes_. Aus der politisch relevantesten Social-Media-Plattform der Welt hat er eine Propaganda-Bühne für sein Polit-Abenteuer als Donald Trumps _best buddy_ und eine gigantische _Hate-Speech_ -Schleuder gebaut. **AUSGEZWITSCHERT** Jetzt mag ich nicht mehr. Ich lege meinen Twitter-Account heute nach 5.757 Tagen still. Ich lösche ihn noch nicht, weil ich die Plattform leider als tagesaktueller Journalist für meine Arbeit brauche. Viele internationale Medien, Institutionen und Expert:innen finde ich woanders — noch? — nicht und bei Katastrophen oder Krisen, die oft abends in der ZiB2 vorkommen, ist X unfassbar schnell. Außerdem möchte ich nicht, dass dort wer anderer unter meinem Namen postet. Also behalte ich den Account - zumindest vorerst. Aber ich werde dort kein Wort mehr posten, keine Kommentare mehr lesen und nicht mehr reagieren, von mir gibt es keine neuen Inhalte mehr. (Ob ich meine alten Tweets alle lösche, überlege ich noch.) Über die vielen Jahre habe ich Twitter etwa 25 dicht bedruckte Bücher an _Content_ geschenkt. Eigentlich irre — und trotzdem war das lange ein vernünftiges Geschäft: Ich bekam dafür sehr, sehr viel nützliche Information, viel Spass und ein großes Publikum für meine Tweets. Aber dieser Deal funktioniert nicht mehr. Elon Musk hat Twitter kaputt gemacht. **BLAUER HIMMEL** Als neue Plattform werde ich ab sofort _Bluesky_ ausprobieren und würde mich freuen, wenn Sie mir dort folgen. Ironischerweise wurde diese Plattform von Twitter-Gründer Jack Dorsey erfunden, als eine Art dezentrales Twitter — ohne Werbung, ohne Algorithmus, der _Hate Speech_ belohnt, und ohne Elon Musk. In den letzten Wochen sind weltweit Millionen Accounts auf _Bluesky_ gewechselt, darunter auch ziemlich viele österreichische _„Twitterati“_. Etliche große Accounts bekannter Journalist·innen übersiedeln heute unter dem Hashtag _#eXit_ gemeinsam mit mir — und derzeit scheint es sich dort ein bisschen so anzufühlen wie auf Twitter um 2010. Also sehr sympathisch. Ich muss mich auf _Bluesky_ auch erst zurechtfinden und einleben (der _Standard_ hat heute eine praktische Einführung). Aber es sieht ganz so aus, als könnte die Plattform —zumindest für Inhalte und Diskussionen aus und über Österreich —schon bald so nützlich werden, wie es Twitter mal war. Wäre schön. * * * Nachtrag, 17.11.2024: Mittlerweile haben viele große Medien über den #eXit berichtet: STANDARD, PRESSE, KURIER, KLEINE, ORF.AT und auch FALTER-Chef Armin Thurnher in einer Online-Kolumne. Nachtrag, 22.11.2024: Ingrid Brodnig hat auf ihrem Blog noch einen exzellenten Text zum #eXit veröffentlicht und im Falter-Radio habe ich bei Raimund Löw mit FALTER-Chefredakteur Florian Klenk und mit Barbara Toth, der Leiterin des Medienressorts über das Thema diskutiert. Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=#eXit: Twitter ist leider kaputt https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F11%2F17%2Ftwitter-ist-leider-kaputt%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=#eXit: Twitter ist leider kaputt&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F11%2F17%2Ftwitter-ist-leider-kaputt%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
January 24, 2025 at 7:51 PM
Wer wird Österreich regieren?
Voraussichtlich am 1. Oktober wird Karl Nehammer über den Ballhausplatz in die Hofburg gehen und dem Bundespräsidenten den Rücktritt der Regierung anbieten.* Das ist nirgendwo vorgeschrieben — wir wählen nächsten Sonntag ja einen neuen Nationalrat und nicht die Regierung —, aber seit Jahrzehnten nach einer Nationalratswahl Tradition. Van der Bellen wird das Rücktrittsangebot annehmen und Nehammer gleichzeitig mit der Fortführung der Amtsgeschäfte betrauen, bis eine neue Regierung unter einem neuen Bundeskanzler steht. Und dieser Kanzler wird mit ziemlicher Sicherheit wieder Karl Nehammer heißen — trotz der Wahlniederlage, die seine Partei nächsten Sonntag erleben wird. Warum ist das so? In allen seriösen Umfragen führt die FPÖ seit vielen Monaten vor der ÖVP, die gegenüber der Wahl 2019 mindestens zehn Prozentpunkte verlieren wird — objektiv ein Debakel. Zuletzt wurde der Rückstand zur FPÖ jedoch kleiner, es ist nicht mehr undenkbar, dass die ÖVP letztlich doch noch knapp vorne liegt. Falls das passieren sollte, wird Karl Nehammer jedenfalls wieder Kanzler. Er ist dann in seiner Partei ein unanfechtbarer Held und hat mehrere Koalitionsoptionen, während es keine plausible Koalition gegen die Volkspartei gibt, solange die SPÖ die Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen verweigert (und das wird sich realistisch in den nächsten Wochen nicht ändern). **WENN DIE FPÖ ERSTE WIRD?** Falls aber doch die Freiheitlichen Erster werden, wovon noch immer die meisten Demoskop·innen ausgehen, ist Herbert Kickl der strahlende Held seiner Partei. Er wäre der erste FPÖ-Chef, der die Freiheitlichen bei einer Nationalratswahl auf Platz 1 geführt hätte (selbst Haider gelang 1999 nur Platz 2, weit hinter der SPÖ). Aber Kickl wird für eine Regierung unter seiner Führung keine parlamentarische Mehrheit finden. SPÖ, Neos und Grüne verweigern eine Koalition mit den Freiheitlichen grundsätzlich und Nehammers ÖVP hat sich so kategorisch darauf festgelegt, den „gefährlichen“ und „rechtsextremen“ Herbert Kickl nicht zum Kanzler zu machen, dass sie von dieser Position realistisch nicht mehr wegkommt. Skeptiker verweisen hier immer auf Niederösterreich und Salzburg, wo die ÖVP entgegen ihren Ankündigungen vor den Landtagswahlen dann doch mit der FPÖ koaliert hat. Das ist richtig — aber in beiden Fällen, um der ÖVP die Landeshauptleute zu sichern, nicht um unter einem FPÖ-Regierungschef den Juniorpartner zu spielen. Würde die FPÖ — wie 1999 — als stärkere Partei der ÖVP den Kanzler anbieten (und Kickl nicht in die Regierung gehen, sondern z.B. Klubobmann bleiben), käme die ÖVP vermutlich in Versuchung, aber das hat wiederum die FPÖ kategorisch ausgeschlossen — und man weiß von Herbert Kickl, dass er die Entscheidung von 1999 für Jörg Haiders größten Fehler hält. **UND DOCH BLAU-SCHWARZ?** Nun ist aber auch bekannt, dass es in der ÖVP einen durchaus starken Flügel gibt, der lieber mit der FPÖ koalieren würde als mit der SPÖ unter Andreas Babler (die frühere VP-Generalsekretärin Laura Sachslehner spricht das auch offen aus). Um sich durchzusetzen, müsste dieser Flügel aber wohl Parteichef Nehammer stürzen. Das wäre denkbar, wenn die ÖVP mit einem katastrophalen Wahlergebnis nur Dritte wird. Doch danach sieht es in keiner Umfrage aus. Und je näher er an die FPÖ heranrücken kann, umso stärker ist Nehammers innerparteiliche Position. Für Herbert Kickl heißt das paradoxerweise, dass ihm ein Wahlsieg nächsten Sonntag weniger Machtoptionen eröffnet als ein zweiter Platz. Ein erster Platz für die Freiheitlichen ist der praktisch sichere Weg in weitere Jahre Opposition. Ganz unabhängig davon, ob der Bundespräsident Kickl formal mit der Regierungsbildung beauftragen würde oder nicht. **DER „AUFTRAG ZUR REGIERUNGSBILDUNG“** Was hat es damit eigentlich auf sich? In der Verfassung kommt dieser Auftrag nirgendwo vor. Doch es hat sich seit Jahrzehnten als politische Usance etabliert, dass der Präsident nach der Wahl den Vorsitzenden der stimmenstärksten Partei offiziell damit betraut, eine Regierungsmehrheit zu finden. Notwendig ist das nicht. Wenn von vornherein klar ist, dass der Wahlsieger keine Mehrheit im Nationalrat finden wird, wäre der Auftrag eine — für die Regierungsbildung — sinnlose Ehrenrunde. Politisch könnte er trotzdem sinnvoll sein, wenn man vermeiden will, dass die FPÖ daraus eine große Opfererzählung macht. Schwierig ist das, weil der Bundespräsident Herbert Kickl nach der Ibiza-Affäre 2019 als Innenminister entlassen hat (das kam noch nie seit 1945 vor) — und nun einen Politiker mit der Bildung einer Regierung beauftragen würde, dem er schon als Minister nicht mehr vertraut hat. **SONDIEREN, SONDIEREN, SONDIEREN** Meine Vermutung wäre: Es gibt nach der Wahl vorerst gar keinen Auftrag zur Regierungsbildung, sondern das Ersuchen des Präsidenten an die Vorsitzenden aller Parlamentsparteien, mögliche Mehrheiten zu „sondieren“. Wenn dann nach einigen Wochen Sondierungsgesprächen klar ist, welche Koalitionen denkbar sind und welche nicht, erfolgt — wenn überhaupt — der formale Auftrag. Der Bundespräsident hat aus der Verfassung keine Vorgaben, wen er als Kanzler oder Kanzlerin und zu Minister·innen ernennt. Aber eine Regierung anzugeloben, die mangels Mehrheit wenige Tage später im Nationalrat wieder abgewählt wird, wäre eine absurde Übung. Also wird es letztlich einen Kanzler geben mit einer mehrheitsfähigen Koalition. Nach derzeitigem Stand wird das — siehe oben — nicht Herbert Kickl sein. **UND DIE SPÖ?** Aber warum nicht SPÖ-Chef Babler? Weil die Umfragen schon katastrophal daneben liegen müssten, damit das politisch plausibel wird. Bablers Wunschkoalition mit Grünen und Neos ist von einer Mehrheit kilometerweit entfernt. Und dass die SPÖ auf den letzten Metern noch die ÖVP überholt, ist äußerst unwahrscheinlich (Platz 1 ohnehin). Doch selbst wenn die SPÖ Platz 2 schaffen sollte, müsste die ÖVP erst davon überzeugt werden, lieber den „Marxisten“ Babler zum Bundeskanzler zu machen als Kickl. Klar, Nehammer hat einen Kanzler Kickl nachhaltig ausgeschlossen, aber wenn die ÖVP hinter der SPÖ auf Platz drei landen sollte, wäre Nehammer wohl nicht mehr sehr lange sehr einflussreich. Dann könnte in der ÖVP jener Flügel übernehmen, der lieber mit den Freiheitlichen regieren will, denen man inhaltlich ohnehin sehr viel näher steht. Erst recht, wenn in der SPÖ Parteichef Babler durch einen Wahlerfolg (und das wäre Platz 2) gestärkt wird. Das alles führt — aus heutiger Sicht, eine Woche vor dem Wahltag — zu folgendem Ergebnis: Wenn die Wahl halbwegs so ausgeht, wie alle Umfragen zeigen, wird die FPÖ ganz massiv Stimmen gewinnen, die SPÖ etwa stabil bleiben und die ÖVP dramatisch verlieren. Es wird lange Sondierungsgespräche geben, dann offizielle Koalitionsverhandlungen und irgendwann - ziemlich sicher nicht vor der steirischen Landtagswahl am 24. November - eine neue Regierung. Vermutlich aus ÖVP und SPÖ plus Neos oder Grüne. Vielleicht aus ÖVP und FPÖ, ohne Kickl als Minister. Der Bundespräsident wird einen neuen Kanzler angeloben. Er wird heißen wie der alte. * * * *** Nachtrag vom 1.10.2024:** Die Demission der Bundesregierung findet am 2. Oktober statt. Das Wahlergebnis ist mittlerweile bekannt. Das plausibelste Szenario aus heutiger Sicht lautet, dass Karl Nehammer nach monatelangen Sondierungsgeprächen und Koalitionsverhandlungen im Jänner oder Februar 2025 als Bundeskanzler einer Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und den Neos neuerlich angelobt wird. Die aktuelle ÖVP-Führung hat auch nach der Wahl bekräftigt, dass sie keinen Kanzler Kickl ermöglichen werde, der Wahlsieger FPÖ hat bekräftigt, dass sich Kickl nicht zurückziehen werde. Nach diesem Wahlergebnis ist nicht anzunehmen, dass Nehammer als Obmann gestürzt wird und ein Parteiflügel übernimmt, der die ÖVP als Juniorpartner in eine Koalition unter Kickl führt, solange sie in einer anderen Konstellation weiterhin den Kanzler stellen kann. Warum die Neos und nicht die Grünen als dritter Partner? Weil 92 oder 93 Mandate für Schwarz-Rot zu wenig für eine tragfähige Regierung sind, eine Dreier-Koalition aber ohnehin als mühsam gilt und die Vertrauensbasis zwischen ÖVP-Führung und Grünen erodiert ist. Die ÖVP sieht die Neos als programmatisch kompatibler, während sie in einer Koalition mit SPÖ und Grünen zwei linken Partnern gegenüber stünde, die sich in vielen Themen sehr nahe sind. Da die ÖVP in dieser Konstellation die stärkste Partei wäre und zumindest theoretisch eine Koalitionsalternative hat, wird sie sich in der Frage des dritten Partners eher durchsetzen als die SPÖ (der die Grünen lieber wären). Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Wer wird Österreich regieren? https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F09%2F22%2Fwer-wird-oesterreich-regieren%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Wer wird Österreich regieren?&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F09%2F22%2Fwer-wird-oesterreich-regieren%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
January 3, 2025 at 7:42 PM
Betrug im Netz
Seit Jahren kursieren im Netz regelmäßig neue Fake-Videos von mir und anderen bekannten ORF-Menschen, in denen wir angeblich für irgendwelche großartigen Geldanlage-Möglichkeiten werben, für Krypto-Währungen, Abnehmmittel, sonstige Medikamente oder was auch immer. Das jüngste Betrugs-Video, das ich kenne, zeigt ein Studiogespräch von mir mit dem Bundespräsidenten, über das eine (sehr schlecht) gefälschte Tonspur gelegt wurde und in dem wir vermeintlich eine superlukrative Geldanlage anpreisen. Selbstverständlich sind ALLE diese Werbevideos FAKES. Das Social-Media-Team der ZiB hat für unseren neuen YouTube-Kanal (den ich sehr empfehlen kann) jetzt einen eigenen Beitrag zu diesem Thema produziert, feat. Armin Assinger, Christa Kummer & mich: ZiB-Journalist·innen machen keine Produktwerbung. Wir dürfen das gar nicht, es ist uns gesetzlich verboten. Wann immer Sie also online einen Werbespot mit mir sehen, in dem nicht eine ORF-Sendung promotet wird, ist es ein Fake. Trotzdem schreiben mir häufig Menschen, warum ich mich für derartige Werbung hergeben würde. Antwort: Mach ich nicht, aber ich kann mich leider nicht dagegen wehren, außer dass ich immer wieder davor warne. Die Betrüger, die diese Spots produzieren, machen das anonym und sind - jedenfalls mit vertretbarem Aufwand - nicht zu finden. Ich kann bei der Polizei eine Anzeige gegen Unbekannt einbringen, aber es bringt leider nichts, außer, dass es mich Lebenszeit kostet. Mehr dazu in diesem Interview: Meistens sieht man diese Fake-Werbespots auf Social Media-Plattformen wie Facebook oder Insta, aber auch auf an sich seriösen Websites, etwa von bekannten Medien. Die verkaufen diese Anzeigen allerdings nicht direkt an die Betrüger (sonst könnte man was dagegen unternehmen), sondern die Online-Werbeplätze werden meist vollautomatisch versteigert. D.h. die Medien kriegen gar nicht mit, wer auf ihren Websites Werbung schaltet. (Und jede Userin bekommt eine andere Werbung angezeigt - je nach ihrem Online-Verhalten.) Wichtig ist jedenfalls: Wenn Sie so eine Fake-Werbung sehen, überweisen Sie niemals an irgendwen Geld und geben Sie keine persönlichen Daten her! Das Geld ist weg und ihre Daten werden missbraucht. Armin Assinger, Christa Kummer & ich können aber nix dafür. Ehrenwort! Teilen: Email](mailto:?subject=Leseempfehlung am Blog von Armin Wolf&body=Betrug im Netz https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F09%2F10%2Fbetrug-im-netz%2F "Beitrag per Email teilen") WhatsApp [ Facebook [ Twitter](https://www.twitter.com/share?&text=Betrug im Netz&url=https%3A%2F%2Fwww.arminwolf.at%2F2024%2F09%2F10%2Fbetrug-im-netz%2F "Auf Twitter teilen")
www.arminwolf.at
December 27, 2024 at 7:39 PM